Innovationsbremse: Wo kämpfen die bayerischen Genossenschaften mit übermäßiger Regulierung und Bürokratismus? Vier Vorstände sagen, was ist.
Einen Fitness-Check hat der Landtagsabgeordnete Walter Nussel in seiner Funktion als Beauftragter für Bürokratieabbau der Bayerischen Staatsregierung und Vorsitzender des Bayerischen Normenkontrollrats von den Behörden im Freistaat eingefordert. Der Plan enthält acht Punkte für einen zukunftsfähigen Verwaltungsvollzug in Bayern:
- Anträge und Erklärungen einfacher gestalten
- Verfahren und Vorgänge zügig bearbeiten
- Entscheidungen treffen
- Kommunikation auf Augenhöhe
- Hilfreiche interne Vorgaben
- Klare Organisationsstrukturen
- Digitalisierung vorantreiben
- Regelmäßige Evaluierung
„Der 8-Punkte-Plan dient als Basis, auf der die Ressorts der Bayerischen Staatsregierung gemeinsam mit den Vollzugsbehörden in ihrem jeweiligen Geschäftsbereich Ideen und Maßnahmen für einen schnelleren, effizienteren und serviceorientierten Verwaltungsvollzug erarbeiten sollen“, erklärt Nussel die Idee. Es gehe bei der Initiative nicht darum, die Arbeit aller bayerischen Vollzugsbehörden grundsätzlich infrage zu stellen. „Es handelt sich vielmehr um einen Fitness-Check, bei dem bereits bekannte Herausforderungen, die bei jeder Behörde auf unterschiedlichen Teilaspekten des 8-Punkte-Plans liegen können, neu in den Fokus gerückt und als Daueraufgabe angepackt werden. Hiervon sollen die Bürger, Unternehmen sowie auch die Vollzugsbehörden selbst profitieren“, erklärt Nussel (hier geht’s zum Fitness-Check auf der Webseite des Beauftragten für Bürokratieabbau).
Er werbe bei den Behörden dafür, den Fitness-Check zu leben, betont Nussel. Das könne zur dringend benötigten Entlastung des Mittelstands von Bürokratie beitragen. Denn es bestehe durchaus die Gefahr, dass die Leistungsträger im Mittelstand und im Ehrenamt bei zu hoher bürokratischer Belastung einfach aufgeben. Damit würden zwei wichtige Säulen für das Gemeinwohl in Bayern wegbrechen. „Der Mittelstand hat Bayern groß gemacht. Das dürfen wir nicht aufs Spiel setzen“, warnt Nussel.
Auch die Digitalisierung könne dabei helfen, Bürokratie abzubauen. „Die Corona-Pandemie war eine große Herausforderung. Doch sie hat an verschiedensten Stellen auch unbürokratische Lösungen ermöglicht, die zuvor so nicht denkbar waren. Wir müssen diesen Geist auch zukünftig beibehalten. Digitale Vernetzung und Vereinfachung von Verwaltungsverfahren sind dabei wichtige Stellschrauben.“ Außerdem gehe es darum, auf bayerischer Ebene die Folgenabschätzung bei der praktischen Umsetzung von Vorschriften zu verbessern, insbesondere was die realistische Abschätzung der finanziellen und sonstigen Auswirkungen von neuen Regelungen angehe. Bei jeder neuen Vorschrift seien unter anderem Nutzen und Aufwand in angemessener Weise festzustellen. „Diese Folgen müssen klar kommuniziert werden“, fordert Nussel.
„Inzwischen erhalte ich auch schon Nachfragen aus Berlin und Brüssel, wie der Praxis-Check funktioniert. Das hat sich herumgesprochen.“
Walter Nussel, Beauftragter für Bürokratieabbau der Bayerischen Staatsregierung
Neben dem Fitness-Check hat der Landtagsabgeordnete auch noch den Praxis-Check im Werkzeugkasten für Bürokratieabbau. Dieser habe sich seit seiner Einführung im Jahr 2018 sehr bewährt. „Inzwischen erhalte ich auch schon Nachfragen aus Berlin und Brüssel, wie der Praxis-Check funktioniert. Das hat sich herumgesprochen“, freut sich Nussel. Bei einem Praxis-Check versammelt der Landtagsabgeordnete Betroffene sowie Vertreter von Behörden, Ministerien und Verbänden an einem Tisch, um zu diskutieren, wie Regulierung praxisnäher und mit weniger Aufwand umgesetzt werden kann.
Sehr erfolgreich sei zum Beispiel ein Praxis-Check zur ordnungsgemäßen Kassenführung verlaufen. Ende 2016 waren die diesbezüglichen Anforderungen verschärft worden. Das hatte bei den bargeldintensiven Branchen für große Verunsicherung gesorgt, weil Formfehler bei der Kassenführung den Finanzbehörden ermöglichen, die sogenannte Zuschätzung vorzunehmen. Zusammen mit dem Landesverband der steuerberatenden und wirtschaftsprüfenden Berufe in Bayern (LSWB) sowie Experten aus Theorie und Praxis habe er dann eine Broschüre mit Tipps im Umgang mit elektronischen Kassen erstellen lassen. „Seitdem höre ich keine Beschwerden mehr“, berichtet Nussel. Auch bei der Münchner Bank eG war er gemeinsam mit GVB-Präsident Gregor Scheller schon zum Praxis-Check. Dort ließ er sich zeigen, wie eine Kontoeröffnung, eine Depoteröffnung und eine Anlageberatung mit ihren umfangreichen gesetzlich vorgeschriebenen Dokumentationspflichten abläuft.
Sobald Nussel als Beauftragter für Bürokratieabbau der Bayerischen Staatsregierung bei einem Thema nicht weiterkommt, weil die Ursachen in Berlin oder Brüssel liegen, speist er dieses zum Beispiel beim Nationalen Normenkontrollrat in Berlin oder bei der Bayerischen Vertretung in Brüssel ein. Von dort wird das Thema dann in die europäischen Institutionen getragen.
„Wir brauchen wieder mehr Eigenverantwortung für den einzelnen. Man kann nicht alles regulieren.“
Walter Nussel, Beauftragter für Bürokratieabbau der Bayerischen Staatsregierung
Ein wichtiges Anliegen ist Nussel die Anhebung der Schwellenwerte im EU-Vergaberecht. Die Bayerische Staatsregierung hatte dazu erfolgreich einen Entschließungsantrag im Bundesrat eingebracht. Nun liegt es an der Bundesregierung, den Antrag auf europäischer Ebene einzubringen. Aktuell müssen öffentliche Aufträge für Liefer- und Dienstleistungen ab einem Wert von 215.000 Euro europaweit ausgeschrieben werden, Bauleistungen ab einem Schwellenwert von knapp 5,4 Millionen Euro. Diese Werte seien mittlerweile viel zu niedrig angesetzt, urteilt Nussel. „Die Vergabe öffentlicher Aufträge ist in der Praxis mit hohem Aufwand verbunden und bindet bei allen Beteiligten massive personelle, zeitliche und somit finanzielle Ressourcen. Die zunehmende Anzahl der auf europäischer Ebene ausschreibungspflichtigen Verfahren belastet Auftraggeber als auch Auftragnehmer unverhältnismäßig und steht in keiner angemessenen Relation zum grundsätzlich wünschenswerten Ziel der Binnenmarktöffnung für öffentliche Aufträge“, kritisiert Nussel.
Problematisch sei oft die Menge an Regulierung, die sich überlagere. So müsse sich zum Beispiel ein Gastwirt mit der Gewerbeaufsicht auseinandersetzen, Hygienevorschriften beachten und die Arbeitsstättenverordnung einhalten, um nur drei von vielen Anforderungen zu nennen. Vor allem kleine Mittelständler würden durch die Regulierung fast erdrückt. In jeder Branche gebe es regulatorische Auswüchse, die wieder auf ein gewisses Normalmaß zurückgeführt werden müssten. Nussel setzt sich deshalb für ein Moratorium für zusätzliche bürokratische Belastungen ein, um die Bürger nicht noch mehr zu belasten. „Wir brauchen wieder mehr Eigenverantwortung für den einzelnen. Man kann nicht alles regulieren, ein gewisses Restrisiko, dass etwas schiefgeht, müssen wir tragen können“, fordert der Beauftragte für Bürokratieabbau.
Bürokratieabbau im Bund: Die ersten Kilometer sind geschafft
Auch die Bundesregierung hat sich zum Ziel gesetzt, Bürokratie abzubauen. Verantwortlich dafür ist seit Juni 2022 der Bundestagsabgeordnete Benjamin Strasser (FDP). Er ist „Koordinator für Bessere Rechtsetzung und Bürokratieabbau“, die Stelle ist beim Bundesjustizministerium angesiedelt. In dieser Funktion leitet Strasser beispielsweise den zuständigen Ausschuss der Bundesministerien, der passende Maßnahmen entwickelt oder Gesetzesentwürfe voranbringt. Außerdem ist er zentraler Ansprechpartner für Verbände, die Verwaltung oder die Normenkontrollräte bei Bund und Ländern.
Was hat Strasser seit dem Start erreicht? Der Politiker verweist auf die sogenannten Meseberger Beschlüsse vom August 2023. Man habe dort das größte Bürokratieabbaupaket in der Geschichte der Bundesrepublik vorgelegt. „Um über 2,3 Milliarden Euro pro Jahr entlasten wir mit dem Wachstumschancengesetz und dem Bürokratieentlastungsgesetz IV die Bürgerinnen und Bürger von unnötiger Bürokratie“, betont Strasser. Wegen der jüngsten Debatten um den Haushalt 2024 ist derzeit jedoch unklar, wann die beiden Gesetze beschlossen werden.
Wie profitieren nun Unternehmen und Menschen konkret vom Bürokratieentlastungsgesetz? Strasser verweist beispielhaft auf drei Maßnahmen. Erstens sei geplant, die Aufbewahrungsfrist für Buchungsbelege im Handels- und Steuerrecht von zehn auf acht Jahre zu verkürzen. Dies befreie nicht nur von unnötigem digitalen wie analogen Schriftverkehr mit den Behörden, sondern bringe den Unternehmen zusätzlich eine „handfeste finanzielle Entlastung“. Zweitens werde für deutsche Staatsangehörige die Hotelmeldepflicht abgeschafft. Unterkünfte müssten die entsprechenden Daten nicht mehr erfassen und an die Behörden weitergeben. Drittens werden in immer mehr Bereichen der Wirtschaft die Schriftformerfordernisse zugunsten der Textform abgeschafft. „So vermeiden wir Medienbrüche und ermöglichen unkomplizierte digitale Lösungen“, erklärt Strasser.
Experten und Vertreter aus der Wirtschaft bewerten die Pläne deutlich zurückhaltender. Im „Profil“-Interview erklärt Klaus-Heiner Röhl vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW): „Von den 400 Vorschlägen, die die Verbände und Unternehmen im Gesetzgebungsprozess zum Bürokratieentlastungsgesetz eingebracht haben, wurde nur ein Bruchteil übernommen. Die Politik dreht an kleinen Stellschrauben, anstatt das große Ganze anzugehen“ (hier geht es zum Interview).
Wirtschaftsverbände werden eingebunden
Bei den Arbeiten zum vierten Bürokratieentlastungsgesetz hat die Politik erstmals Wirtschaftsverbände in einem strukturierten Prozess beteiligt. Diese konnten Vorschläge einbringen, an welchen Stellen es Schmerzpunkte gibt. „Bürokratieabbau ist ein Teamsport“, betont Strasser. An dieser sogenannten „Verbändeabfrage“ hat auch die Deutsche Kreditwirtschaft mitgemacht und drei Themen eingebracht: Zustimmungsfiktionsklauseln für die Änderung von AGB im Bankbereich, Abschaffung überflüssiger Schriftformerfordernisse sowie Erleichterung der Grundbucheinsicht. Letzteres wird laut Webseite „aus unterschiedlichen Gründen nicht aufgegriffen“, bei den ersten beiden Punkten sind „weitere Prüfungen / Untersuchungen notwendig“. Strasser erklärt dazu: „Bei den Schriftformerfordernissen wollten wir konsequent an den Stellen, an denen es möglich und geboten ist, diese durch die Textform ersetzen.“ Dies werde derzeit geprüft. In Bezug auf die Änderung des AGB-Rechts erklärt Strasser: „Ich bin zuversichtlich, dass wir auch hier im Jahr 2024 eine europarechtskonforme Lösung finden werden.“
Der Politiker vergleicht Bürokratieabbau mit einem Marathonlauf. „Wir haben jetzt die ersten Kilometer der Strecke geschafft.“ Wichtig sei es nun, weitere Schritte zu gehen. Da über die Hälfte der bürokratischen Pflichten aus Europa komme, müsse das europäische Recht geändert werden. „Gemeinsam mit Frankreich haben wir uns auf konkrete Vorschläge wie Erleichterungen bei der Datenschutzgrundverordnung verständigt. Nun suchen wir in Europa gemeinsam Mehrheiten für diese und weitere Vorschläge und führen bereits Gespräche mit unseren europäischen Freunden.“
Normenkontrollrat: Erfüllungsaufwand hat nie dagewesene Höhe erreicht
Der Nationale Normenkontrollrat (NKR) berät seit 2006 die Bundesregierung, den Bundestag und den Bundesrat zu den Themen Bürokratieabbau und bessere Rechtsetzung. Im November hat das Gremium seinen Jahresbericht an Bundesjustizminister Marco Buschmann überreicht. Demnach steigen aktuell die Belastungen von Unternehmen, Behörden und Bürgern jährlich um 9,3 Milliarden Euro, zusätzlich gab es im Berichtszeitraum – Juli 2022 bis Juni 2023 – einmalig Belastungen in Höhe von 23,7 Milliarden Euro.
Das Urteil des NKR-Vorsitzenden Lutz Goebel fällt wenig schmeichelhaft aus: „Wir sind an einem Punkt angekommen, an dem der Erfüllungsaufwand eine nie dagewesene Höhe erreicht hat.“ Als Erfüllungsaufwand werden die Kosten bezeichnet, die durch die Befolgung von Gesetzen entstehen. Größter Kostentreiber sei das Gebäudeenergiegesetz. In der Politik wachse der Anspruch, gesellschaftliche und wirtschaftliche Prozesse regulatorisch zu verändern. Gleichzeitig müssten immer mehr Regelungen in kürzester Zeit beachtet und umgesetzt werden. Das überfordere viele Bürger sowie Unternehmen. „Viele sehen eine Belastungsgrenze überschritten“, resümiert Goebel.
Der NKR empfiehlt daher mehrere Maßnahmen, die er unter den Stichwörtern „Weniger, einfacher, digitaler“ subsummiert. Dazu zählt beispielsweise, für eine neue Regelung zwei alte zu streichen sowie die Bürokratiekosten weiter abzubauen. Wichtig sei zudem, die Digitalisierung konsequent voranzutreiben. Bisher komme die Verwaltungsdigitalisierung in Deutschland viel zu langsam voran. Es brauche zentrale Basisinfrastrukturen und Plattformen, verbindliche Architekturvorgaben und Standards sowie schnellere Entscheidungsverfahren und leichtere IT-Beschaffung, mahnt der Rat an. Ein weiterer Punkt: Gute Gesetze brauchen Zeit. Es müsse deutlich stärker geprüft werden, welche Folgekosten eine Gesetzgebung mit sich bringe oder welche Alternativen es gebe, betont der NKR.