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Wir alle kennen Aussagen zum Bürokratieabbau gut. Seit etwa 15 Jahren kommt das Thema in regelmäßigen Abständen an die politische Oberfläche. Dass wir diese Diskussion seit 15 Jahren führen, zeigt auch, dass es am Ende häufig bei Bekundungen geblieben ist oder Reformen nicht gelingen. Diesmal ist der Ernst der Lage aber allen bewusst, so scheint es. Politik, Verbände und Medien diagnostizieren einhellig den lähmenden Effekt der Bürokratie auf die Wirtschaftsentwicklung. Um Fehler der Vergangenheit zu vermeiden und den Bürokratieabbau wirklich voranzubringen, gilt es vier Prinzipien zu beachten:

1. Die EU-Gesetzgebung in den Fokus rücken

Schaut man in aktuelle Gesetzgebung, scheint die Absicht nach Bürokratieabbau noch nicht angekommen zu sein. Denn von Abbau sind wir weit entfernt. Ob Digitalisierung (DORA) oder European Green Deal, bei aktuellen Gesetzesvorhaben steht ein massiver Aufbau von Bürokratie an. Wer Abhilfe schaffen will, muss zunächst hier ansetzen. Gerade der Mittelstand ist durch die rasche Abfolge an immer neuen und detaillierteren Vorschriften an der Belastungsgrenze.

Bei aller Kritik an deutschen Eigenheiten in Sachen Bürokratie, beispielsweise bei Verwaltungsvorschriften oder Genehmigungsverfahren, ist nicht alles davon berechtigt oder zielgerichtet. Ein Großteil der Regeln kommt heute von europäischer Ebene und ist daher ursächlich für bürokratische Belastungen. Für jede Vorschrift, die wir in Deutschland möglicherweise streichen, kommen aus Brüssel drei neue hinzu, das zeigt die EU-Roadmap mit den aktuellen Vorhaben. Ein rein deutsches Problem ist hier vorwiegend das „Goldplating“, also das Verschärfen europäischer Vorschriften, das die deutsche Wirtschaft in ihrer Wettbewerbsfähigkeit benachteiligt.

In der EU hat die Regulierungsmaschine in den letzten Jahren massiv an Fahrt aufgenommen. Die aktuell von der Kommission vorgelegten Verordnungen und Richtlinien sind vom Geiste geprägt, jeden Aspekt des Wirtschaftsgeschehens möglichst umfassend und bis ins kleinste Detail steuern zu können, häufig mithilfe von delegierten Rechtsakten an Behörden, die Regeln weiter vertiefen. Hier ist ein dringender Kurswechsel geboten. So ist die Vermischung von Umwelt- und Finanzmarktregulierung in der Taxonomieverordnung auch nach Ansicht vieler Experten, unter anderem auch der deutschen Aufsicht, eine Sackgasse. Anstatt bei den verbleibenden vier Umweltzielen der Taxonomie weiter stur auf Umsetzung zu drängen, wäre ein Neustart wichtig. Ein Blick über den Atlantik und den Inflation Reduction Act in den USA gibt möglicherweise Ideen, wie es besser geht.

Ein weiteres Beispiel ist die MiFID. Hier setzt sich der GVB seit Jahren für sinnvolle Rationalisierung im Interesse von Kunden und Banken ein. Die von uns im Rahmen der MiFID-Überprüfung aus dem Jahr 2019 (!) eingereichten Vorschläge wurden bis heute größtenteils nicht umgesetzt (siehe Beitrag in dieser Ausgabe). In der aktuellen Kleinanlegerstrategie wird in MiFID und PRIIP stattdessen weiter draufgesattelt. Es wird für Kundinnen und Kunden nicht einfacher, die Informationsflut nimmt zu und mit ihr die Anforderungen an Banken, die dem Kunden aber keinen Mehrwert bringen. Exemplarisch sei hier das geplante Produktgenehmigungsverfahren in Artikel 16-a des MiFID-Entwurfs genannt. In diesem soll nicht nur ein äußerst bürokratisches Verfahren samt behördlichem Referenzbenchmarksystem eingeführt werden. Es wird zudem klar geregelt, dass trotz der umfangreichen Zusatzanforderungen keine der bisher bestehenden Pflichten gestrichen werden sollen. Solche Artikel stehen im diametralen Gegensatz zu den Verlautbarungen der EU-Kommission, Bürokratie abzubauen.

Gerade in Hinblick auf die Anfang Juni 2024 stattfindende Europawahl ist jetzt der Zeitpunkt, den europäischen Gesetzgeber an sein Versprechen zu erinnern.

2. Streichen statt Verkomplizieren

Im Umgang mit Europa ist auch ein Umdenken nötig, wie wir Bürokratieabbau verstehen. Kommen aus Wirtschaft und Wissenschaft Hinweise zu unsachgemäßer Regulierung, die sich in der Praxis als schwer umsetzbar erweist, werden Regeln ergänzt statt vereinfacht. Es werden Ausnahmen von der Regel definiert, die aber wiederum nur unter einer Vielzahl von Nebenbedingungen gelten. Ein konkretes Beispiel ist der SNCI-Status für kleine Banken (SNCI: kleine nicht komplexe Institute). Dieser soll risikoarme Banken mit geringer Bilanzsumme administrativ entlasten. Die starke Regulierung ist für sie unverhältnismäßig, denn sie stellen keine Gefahr für die Stabilität des Finanzsystems dar. Gleichzeitig werden die hohen regulativen Anforderungen für solche Institute zu einer besonders starken Belastung. Leider bringt der SNCI-Status in der Praxis kaum eine Erleichterung. Das Gesetz konzentriert sich vor allem darauf, die Qualifizierung als SNCI besonders genau zu definieren.

Allgemein gilt: Gerade für kleine und mittlere Unternehmen (KMU) müssen Regeln klar verständlich und anwenderfreundlich sein. Wenn die Umsetzung komplexer Ausnahmen Kosten verursacht, beispielsweise durch notwendige externe Beratungsleistungen oder teure IT-Unterstützung, verfehlt der Gesetzgeber die Bedarfe der Zielgruppe. Anstatt also komplexe und voraussetzungsreiche Ausnahmen zu definieren, sollte der Gesetzgeber die Notwendigkeit von Regeln hinterfragen und mehr Mut zur Streichung aufbringen.

3. Vereinfachen, nicht Verschärfen

Findet die oben genannte Verkomplizierung im Bürokratieabbau nicht statt, sondern handelt es sich um eine nominelle Vereinfachung, tritt häufig ein zweites negatives Phänomen auf - die Verschärfung von Regeln. Der Mechanismus ist folgender: werden Regeln vereinfacht, reduziert sich aus Sicht des Gesetzgebers oder der Aufsichtsbehörden die Genauigkeit der Regulierung. Eine geringere Genauigkeit bedeutet ihrer Ansicht nach ein höheres Risiko, weshalb die Anforderungen qualitativ erhöht werden. Dies trifft wiederum kleine Unternehmen hart, für die solche Entlastungmaßnahmen meist gedacht sind. Daraus ergibt sich ein ungerechtfertigter Wettbewerbsnachteil, da KMUs wie kleine Banken weniger systemische Risiken haben und eine konservativere Risikobetrachtung gar nicht angezeigt ist.

Im Bankenbereich findet sich dieses Phänomen beispielsweise bei den Eigenmittel- sowie den Liquiditätsanforderungen. Der Kreditrisikostandardansatz (KSA) ist für kleinere Banken gedacht, die nicht die Ressourcen haben, um interne Modelle (IRBA) zur Bestimmung ihres Risikos zu verwenden. Während der KSA stärker pauschalisiert und damit häufig eine sehr konservative Risikogewichtung vornimmt, erlaubt der komplexere IRBA Abweichungen von den konservativen Standardwerten. Bei der vereinfachten strukturellen Liquiditätsquote (sNSFR), die extra für SNC-Institute geschaffen wurde, führt die Vereinfachung ebenfalls zu einer konservativeren Einschätzung. Der Gesetzgeber begeht bei dieser Art der Regelsetzung einen Fehlschluss, wenn er Genauigkeit mit geringerem Risiko gleichsetzt, beziehungsweise Pauschalisierung mit einem höheren Risiko belegt. Unsicherheit und Risiko sind nicht das Gleiche. Die Finanzkrise 2008 hat gezeigt, dass vermeintlich genaue und risikosensitive Ansätze wie der IRBA fehlerbehaftet sein können. Gleichzeitig liegen bei großen Instituten, die diesen anwenden, die größten Risiken für das Finanzsystem. Im Gegenzug kennen zum Beispiel Volks- und Raiffeisenbanken ihre Kunden sehr gut. Das ist ein Vorteil des Regionalmodells, in der die Kenntnisse über die wirtschaftliche Situation des Kunden und des regionalen Markts sehr hoch sind und damit die Unsicherheit geringer als angenommen ist. Die konservative Risikoeinschätzung entspricht daher nicht der Praxis.

Dieses konkrete Beispiel aus dem Bankenbereich lässt sich auf viele Bereiche des Mittelstands übertragen. Die hohe Granularität des Mittelstands reduziert erstens systemische Risiken wie Ansteckungseffekte. Zweitens ist die Unsicherheit weit weniger hoch, als es die bürokratischen Vorschriften annehmen. Vereinfachungen mit Verschärfungen zu kombinieren, erlegt dem Mittelstand also einen Wettbewerbsnachteil auf, der in der Risikobetrachtung ungerechtfertigt ist und bei zukünftigem Bürokratieabbau vermieden werden muss.

4. Keine Lösungen für Probleme, die es nicht gibt

Der Chefvolkswirt der Commerzbank bezeichnete den Digitalen Euro am 7. Dezember 2023 in der „Börsen-Zeitung“ als „Lösung auf der Suche nach einem Problem“. Die geplante Digitalwährung ist nicht der einzige Fall in der EU, wo wir dieses Phänomen beobachten können. Gleiches gilt für die geplante Ausweitung des Banken-Abwicklungsregimes der EU (CMDI-Review) oder der Kleinanlegerstrategie (RIS). Allein die Eingangsbegründungen der drei Vorhaben lassen beim Leser Fragezeichen zurück. Welchen Mehrwert bringt der Digitale Euro? Wie soll eine Ausweitung des Abwicklungsregimes auf Kleinbanken die Finanzstabilität erhöhen? Wie sollen Kleinanleger einen besseren Zugang zum Kapitalmarkt bekommen, wenn Finanzdienstleistungen eingeschränkt werden? Die Vorhaben sind schwer zu begründen, die Wirksamkeit der Maßnahmen stark zweifelhaft. Gleichzeitig führen aber gerade CMDI und RIS zu einem massiven Aufbau von Bürokratie, einhergehend mit einer Verlagerung von Autorität zu EU-Behörden mit Steuerungs- und Lenkungsaufgaben, die marktwirtschaftliche Mechanismen außer Kraft zu setzen drohen.

Der Gesetzgeber sollte hinterfragen, ob diese Eingriffe und das Wachstum an Bürokratie wirklich im Verhältnis zum beabsichtigten Nutzen stehen. Denn Gefahr droht nicht nur in Form lähmender Bürokratie: Europaskepsis macht sich seit vielen Jahren unter der Bevölkerung breit und Populisten prägen zunehmend das EU-Parlament. Die wahrgenommene Fremdbestimmung aus Brüssel führt bei Bürgerinnen und Bürgern zu Frust. Gerade vor der Europawahl muss deshalb ein Umdenken stattfinden – für Wirtschaft, Europa und seine Bürgerinnen und Bürger.


Gregor Scheller ist Präsident des Genossenschaftsverbands Bayern (GVB).

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