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Herr Dr. Röhl, laut dem aktuellen Jahresbericht des Normenkontrollrats sind die Bürokratie-Lasten für die Unternehmen in Deutschland so hoch wie noch nie ...

Klaus-Heiner Röhl: … die bürokratischen Belastungen haben für die Unternehmen ohne Zweifel einen besorgniserregenden Höchststand erreicht. Problematisch ist des Weiteren eine zunehmende mangelhafte Qualität in der Gesetzgebung. Immer mehr Gesetze werden ohne ausreichende Prüfung auf ihre Praxistauglichkeit beschlossen. So entstehen komplexe und unverständliche Vorschriften.


Die Klagen über zu viel Bürokratie sind nicht neu. Hat das Thema zuletzt eine neue Dimension bekommen?

Röhl: Einerseits ist es ein Fakt, dass die Belastungen durch zu viel Bürokratie auf ein Rekordlevel gestiegen sind. Andererseits gibt es einen Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Situation. Wenn die Konjunktur schwächelt, wie aktuell, dann bringen die politischen Entscheidungsträger in der Regel das Thema Bürokratieabbau ins Spiel. Schließlich ist das eine Maßnahme, mit der die Regierung die Wirtschaft ankurbeln kann, ohne zusätzliche Steuergelder einzusetzen oder Subventionen zu zahlen.

„Die Politik hat zunehmend den Anspruch, soziale und ökologische Aspekte in die Gesetzgebung zu implementieren.“

Was sind die zentralen Ursachen für zu viel Bürokratie in Deutschland?

Röhl: Hauptsächlich sind es drei Faktoren. Erstens gibt es hierzulande ein hohes Streben nach Einzelfallgerechtigkeit. Bei pauschalen Regeln gibt es immer jemanden, der aus dem Rahmen fällt. Davor haben wir in Deutschland eine Höllenangst. Als Konsequenz führen wir für jeden Fall, sei er noch so besonders, eine detaillierte Vorschrift ein. Das führt aber zu extrem komplizierten Gesetzen. Bestes Beispiel ist das Heizungsgesetz von Wirtschaftsminister Robert Habeck, bei dem jedes Detail geregelt wird. Zweitens hat die Politik zunehmend den Anspruch, soziale und ökologische Aspekte in die Gesetzgebung zu implementieren – Stichwort Social Responsibility. Wenn die Unternehmen nun genau nachweisen müssen, dass beispielsweise ihre Lieferketten fair gestaltet sind, dann führt das logischerweise zu erheblich mehr Bürokratie. Drittens erschwert es der Föderalismus, einfache Regeln aufzustellen. Denn neben dem Bund haben auch die Länder und teilweise die Kommunen viel Gestaltungsfreiraum. Ein Beispiel, das wahrscheinlich noch allen gut in Erinnerung ist, sind die von Bundesland zu Bundesland unterschiedlichen Corona-Regeln. Oder aktuell die Grundsteuer, bei der es ein Bundesmodell, ein Bundesmodell mit Abweichungen und ein eigenes Ländermodell gibt.

Wer Regeln aufstellt, agiert stets in einem Spannungsfeld: Einerseits sollen die Vorschriften für Sicherheit und Gerechtigkeit sorgen, andererseits die Wirtschaft nicht ausbremsen. Welche Grundsätze sind vor diesem Hintergrund entscheidend für eine ausgewogene Rechtsetzung?

Röhl: Andere Länder machen vor, wie es gehen könnte. Beispielsweise gehen die Niederlande oder die skandinavischen Staaten viele Themen mit mehr Pragmatismus an. So schaffen sie es für gewöhnlich, einfachere und dennoch effektive Regeln aufzustellen. Davon sollten wir uns eine Scheibe abschneiden und von der extremen Einzelfallgerechtigkeit Abstand nehmen. Außerdem braucht es einfachere Planungs- und Genehmigungsverfahren in Deutschland. Ein Beispiel: Der Prozess von der Antragseinreichung bis zur Genehmigung bei Bauvorhaben dauert heute durchschnittlich über ein Jahr. Gründe dafür sind erstens, dass die Ämter überlastet sind, zweitens, dass sie zahlreiche Gutachten anfordern, um sich rechtlich abzusichern und drittens, dass die Vorgaben kompliziert sind. Ein weiterer Punkt ist, kleine und mittlere Unternehmen wirksam von zu vielen Pflichten zu entlasten. Häufig heißt es in der Politik: Die Regeln gelten nur für große Betriebe ab 1.000 oder 3.000 Beschäftigten. Aber in Wirklichkeit geben die großen Unternehmen die Vorschriften eins zu eins an ihre Zulieferer oder Dienstleister weiter. Das überfordert dann viele kleine und mittlere Betriebe.

„Wenn wir von den Vorzügen der Digitalisierung profitieren möchten, müssen wir Cloud- und Portallösungen einführen.“

Welche Rolle spielt die Digitalisierung?

Röhl: Mehr digitale staatliche Leistungen könnten die Wirtschaft spürbar entlasten. Und so ist es nicht verwunderlich, dass die Politik die Digitalisierung vorantreiben möchte. Bei der Umsetzung hapert es jedoch erheblich. Und so gibt es auf der einen Seite viel zu wenige digitale Leistungen. Ein Beispiel: Nach dem Onlinezugangsgesetz OZG hätten schon Ende 2022 insgesamt 575 Leistungen für Bürger und Unternehmen online verfügbar sein sollen. Aktuell sind es erst 148. Auf der anderen Seite werden komplizierte analoge Prozesse häufig in die digitale Welt übertragen, ohne sie zu vereinfachen. Nun ist der Prozess zwar digital, Entlastung bringt er aber nicht.


Was würde helfen?

Röhl: Wenn wir von den Vorzügen der Digitalisierung profitieren möchten, müssen wir Cloud- und Portallösungen einführen. Diesen stehen viele Datenschutzbehörden in Deutschland jedoch extrem kritisch gegenüber. Insofern ist zu befürchten, dass wir bei der Digitalisierung der Verwaltung nicht entscheidend von der Stelle kommen und im internationalen Vergleich weiter zurückfallen. Ein weiterer Punkt in diesem Kontext ist die sogenannte Registermodernisierung. Es geht um folgendes: Derzeit führen die Behörden in der Regel eigenständige Register. Die Systeme sind technisch nicht in der Lage, die dort erhobenen Daten auszutauschen, falls sie überhaupt schon digitalisiert wurden. Also müssen sowohl die Bürgerinnen und Bürger als auch die Unternehmen die gleichen Daten an verschiedene Stellen melden. Bereits vor Jahren hat nun die EU das sogenannte Once-Only Prinzip aufgestellt. Ziel ist es, dass die Daten nur noch einmal mitgeteilt werden müssen und dann von den Behörden untereinander ausgetauscht werden, wenn die Nutzer dem zustimmen. Allerdings passiert aktuell nicht viel, ich bin skeptisch, ob die Registermodernisierung in den kommenden Jahren gelingt. Es müsste den politischen Willen dazu geben, außerdem braucht es hohe Investitionssummen.

In den vergangenen Jahren gab es immer wieder Versuche, Bürokratie umfassend abzubauen. Die prägnantesten Beispiele dafür sind sicherlich die Bürokratieentlastungsgesetze I, II und III. Warum ist der große Durchbruch dennoch ausgeblieben?

Röhl: Die Gesetze an sich waren ein Schritt in die richtige Richtung und haben tatsächlich etwas bewirkt. Das Grundproblem ist aber folgendes: Die Unternehmen und Verbände werden im Gesetzgebungsprozess aufgefordert, Vorschläge zu unterbreiten, wo sie Entlastungen erwarten. Umgesetzt werden die Forderungen aber kaum. Welche Gründe dahinterstecken, ist schwierig zu analysieren. Häufig haben die politischen Entscheidungsträger Angst davor, dass sie dadurch die existierenden Standards verwässern könnten. Bevor es dann einen Aufschrei gibt, lassen sie lieber die Finger davon.

„Die Politik dreht an kleinen Stellschrauben, anstatt das große Ganze anzugehen.“

Zuletzt hat Bundesjustizminister Marco Buschmann ein viertes Bürokratieentlastungsgesetz vorgelegt. Welche Impulse erwarten sie?

Röhl: Auch im vierten Bürokratieentlastungsgesetz stecken sinnvolle Punkte. Das Problem bleibt aber das gleiche: Von den 400 Vorschlägen, die die Verbände und Unternehmen im Gesetzgebungsprozess eingebracht haben, wurde nur ein Bruchteil übernommen. Die Politik dreht an kleinen Stellschrauben, anstatt das große Ganze anzugehen. Immerhin: Buschmann hat gemeinsam mit Bundesfinanzminister Christian Lindner sowie Wirtschaftsminister Robert Habeck das Thema Bürokratieabbau zur Chefsache erklärt. Es bleibt also abzuwarten, ob nun etwas mehr Bewegung in die Sache kommt.

„Die Kommission von der Leyen agiert deutlich regulierungsfreudiger als die Kommission Juncker.“

Immer mehr bürokratische Vorgaben kommen aus der EU. Justizminister Buschmann hat den Anteil der Vorgaben aus Brüssel zuletzt auf 57 Prozent beziffert. Inwieweit hat die nationale Politik Gestaltungsspielraum?

Röhl: Das Thema hat zwei Seiten. In der Tat ist es so, dass die Kommission von der Leyen deutlich regulierungsfreudiger agiert als die Kommission Juncker. Die EU ist zunehmend überzeugt, vom Brüsseler Schreibtisch aus ihren moralischen Anspruch bis in den letzten Winkel der Erde zu tragen. Doch Initiativen wie der Green Deal oder das Lieferkettengesetz führen zu massiven bürokratischen Belastungen für die Unternehmen.


Und die andere Seite der Medaille?

Röhl: Wenn die Gesetze einmal verabschiedet sind, dann sind die politischen Entscheidungsträger in Deutschland immer ganz erstaunt, wie kleinteilig die Vorschriften ausfallen. Aber die Themen fallen ja nicht vom Himmel. In der Regel haben die gleichen Politiker den Entscheidungen entweder zugestimmt oder sich enthalten, weil sie vorher zu keinem Kompromiss mit ihren Koalitionspartnern gekommen sind. Und viele Themen hat Deutschland federführend vorangetrieben, etwa das Lieferkettengesetz. Sich anschließend hinzustellen und zu schimpfen, das ist nicht aufrichtig. Dazu kommt, dass der deutsche Gesetzgeber dazu neigt, die Vorgaben aus Brüssel zu übertreffen, das sogenannte Goldplating. Wie bereits angesprochen haben die Niederlande oder die skandinavischen Länder weniger Bürokratie – obwohl die EU-Vorgaben auch dort gelten. Es gäbe also Möglichkeiten, die Belastungen aus Brüssel zu reduzieren.

2015 wurde die sogenannte One-in-One-out-Regel eingeführt. Dieses sieht vor, jede gesetzliche Maßnahme, die die Wirtschaft belastet, an anderer Stelle auszugleichen. Wie bewerten Sie diese Regel?

Röhl: Die Regel ist besser als nichts. Aber natürlich ist sie nicht ideal ausgestaltet, da sie viele Faktoren nicht einbezieht. Beispielsweise gilt die Regel nur für die deutsche Gesetzgebung, nicht für die europäische. Auch den Erfüllungsaufwand – das sind alle Kosten, die einem Unternehmen durch die Umsetzung von Vorschriften entstehen – beinhaltet das Modell nicht. Es braucht also deutlich ambitioniertere Ansätze, um die Unternehmen spürbar zu entlasten. Ansonsten klafft weiterhin eine große Lücke zwischen dem politischen Versprechen zum Bürokratieabbau und dem konkreten Handeln.


Herr Röhl, vielen Dank für das Gespräch!

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