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Wenn es um Bürokratismus in Deutschland geht, wird gerne die Metapher vom Mehltau herangezogen, der Deutschland überzieht. Mehltau ist eine Pilzkrankheit, die Pflanzen befällt und zum Beispiel im Weinbau erhebliche wirtschaftliche Schäden verursachen kann, wenn sie nicht rechtzeitig bekämpft wird.

Auch Bundeskanzler Olaf Scholz griff Anfang September 2023 in seiner Rede zur Haushaltsdebatte im Deutschen Bundestag zu diesem Bild: „Nur gemeinsam werden wir den Mehltau aus Bürokratismus, Risikoscheu und Verzagtheit abschütteln, der sich über Jahre und Jahrzehnte hinweg über unser Land gelegt hat. Dieser Mehltau lähmt unsere Wirtschaft, und er sorgt für Frust bei den Leuten im Land, die einfach wollen, dass Deutschland ordentlich funktioniert.“

Raiffeisenbank Bad Kötzting: Mehr Verhältnismäßigkeit bei Auslagerungen

Das wollen auch Michael Wurm und Reinhard Stahl. Dabei fallen den beiden Vorständen der Raiffeisenbank Bad Kötzting aus ihrer täglichen Arbeit viele Beispiele ein, wo Deutschland im Kleinen nicht ordentlich funktioniert, weil überbordende Regulatorik und Bürokratismus das Leben unnötig erschweren. Stahl nennt zum Beispiel die Auslagerung der IT-Infrastruktur an die Atruvia. „Das ist bei jeder Genossenschaftsbank identisch, trotzdem behandelt uns die Aufsicht so, als würden wir unsere IT an irgendwelche Dritte auslagern, und verlangt von uns, den ganzen Katalog an Anforderungen zum Auslagerungsmanagement zu erfüllen“, kritisiert Stahl. „Wir treffen keine eigenen IT-Investitionsentscheidungen, weil wir die IT-Infrastruktur der Atruvia nutzen. Also gibt es in dieser Hinsicht bei uns auch nicht viel zu prüfen. Solche Themen sollte die Aufsicht viel stärker berücksichtigen“, ergänzt Michael Wurm, Vorstandsvorsitzender der Raiffeisenbank Bad Kötzting.

Für die beiden Bankvorstände ist auch das Millionenkreditmeldewesen ein gutes Beispiel für ein grundsätzliches Problem. Banken müssen jedes Quartal alle Kredite über einer Million Euro an die Aufsicht melden. Dieselben Daten müssen sie jedoch auch für die europäische Kreditdatenbank AnaCredit bereitstellen. Doppelte Arbeit, die keiner braucht. „Das Millionenkreditmeldewesen ist absolut überflüssig und gehört abgeschafft“, fordert Wurm. Das hatte die Bundesbank eigentlich schon längst angekündigt, doch das Register existiert immer noch.

„Was einmal an Bürokratie eingeführt wurde, bekommen wir nicht mehr weg.“

Reinhard Stahl, Raiffeisenbank Bad Kötzting

„Was einmal an Bürokratie eingeführt wurde, bleibt. Wir bekommen überkommene bürokratische Regelungen nicht mehr weg, weil das System beharrlich ist“, sagt Stahl. In jedem Ministerium und in jeder Behörde gebe es Experten, die sich mit Regeln beschäftigen und auf ihre Einhaltung achten. Würden diese Regeln abgeschafft, müssten diese Experten anders beschäftigt und Organisationsstrukturen verändert werden. „Davor scheut die Politik meist zurück, also bleibt alles so, wie es ist“, sagt Wurm. Das ziehe sich durch alle politischen Ebenen von Brüssel über Berlin bis hinunter zu den Kommunen.

Aus wenigen Regeln werden plötzlich viele

Hinzu kommt ein weiteres Problem: Viele Regeln werden auf der obersten politischen Ebene sehr unkonkret formuliert, zum Beispiel in der europäischen und deutschen Gesetzgebung. Also sind nachgelagerte Behörden gezwungen, den politischen Willen auszulegen. Dafür werden umfangreiche Regelwerke erlassen, die am Ende nur noch schwer verständlich sind. Stahl nennt als Beispiel die Paragrafen 25a und 25b im Kreditwesengesetz. Sie regeln die besonderen organisatorischen Pflichten von Banken zur Risikominimierung sowie die Auslagerung von Aktivitäten und Prozessen. Vor allem Paragraf 25a ist zwar schon recht umfangreich, aber noch überschaubar. Der Gesetzgeber hat jedoch die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) ermächtigt, per Rechtsverordnung die Details zu regeln. Das hat diese in der mittlerweile siebten Novelle der Mindestanforderungen an das Risikomanagement (MaRisk) getan. Weil auch noch Teile der europäischen Richtlinie über Kapitalanforderungen in die MaRisk einfließen, müssen sich die Banken auf einmal mit einem 55-seitigen Dokument mit zahllosen Detailregeln auseinandersetzen. „So werden aus wenigen Sätzen im Kreditwesengesetz viele Sätze in den MaRisk, die jeder auch noch zu interpretieren versucht, und bei uns unten kommt der Wahnsinn an“, sagt Reinhard Stahl.

Wenn die Politik immer neue Regeln schaffe, bedinge das auch eine Verhaltensänderung bei jenen, die diese Regeln durchsetzen müssen. „Irgendwann wird Regulierung zur Geisteshaltung und kaum noch reflektiert“, sagt Stahl. Problematisch sehen die Bankvorstände auch, dass Behörden und Unternehmen gar nicht mehr pragmatisch handeln könnten, weil sich mittlerweile immer jemand finde, der gegen vermeintliches Unrecht klage. Paradebeispiel sei das Urteil des Bundesgerichtshofs vom April 2021, wonach Banken bei Änderungen ihrer Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB) oder ihres Preis- und Leistungsverzeichnisses die ausdrückliche Zustimmung ihrer Kunden einholen müssen. Verbraucherschützer hatten gegen die sogenannte Zustimmungsfiktion geklagt, wonach Banken stillschweigend von einer Zustimmung zu AGB- oder Gebührenänderungen ausgehen konnten, wenn die Kunden informiert wurden und diese nicht innerhalb einer bestimmten Frist widersprochen haben.

AGB-Urteil ändert für Kunden nichts

Dem Verbraucherschutz habe das AGB-Urteil eher geschadet als genutzt, glauben die beiden Bankvorstände aus Bad Kötzting. Die Banken müssten dagegen extremen Aufwand betreiben, um die Zustimmungen bei allen Kunden einzuholen. Auch die Raiffeisenbank Bad Kötzting hat diese Erfahrung schon gemacht. „Als wir unser Preis- und Leistungsverzeichnis angepasst haben, mussten wir wegen des AGB-Urteils alle Kunden anschreiben und anschließend vielen hinterhertelefonieren. Mit dem Erstversand der Unterlagen waren vier bis fünf unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter über Tage beschäftigt, die ganze Aktion hat uns einen deutlich fünfstelligen Betrag gekostet“, berichtet Wurm. Allein das Porto für 7.000 Großbriefe à 1,60 Euro habe sich auf mehr als 11.000 Euro belaufen. „Wenn man ins Verhältnis setzt, dass wir eine sehr kleine Bank mit gerade einmal 32 Beschäftigten und rund 9.000 Kunden sind, ist das eine enorme Belastung für uns, die wirklich niemandem hilft“, sagt der Vorstandsvorsitzende der Raiffeisenbank Bad Kötzting. Zusammen mit seinem Vorstandskollegen Reinhard Stahl hofft er auf ein Einsehen der Politik. Auch der Genossenschaftsverband Bayern (GVB) setzt sich auf politischer Ebene dafür ein, die Folgen des AGB-Urteils zu heilen.

Denn das AGB-Urteil habe nichts geändert. „Die Kunden haben keinen Gestaltungsspielraum, denn wir können keine unterschiedlichen Gebühren für die gleiche Leistung verlangen. Am Ende sind wir gezwungen, dem Kunden das Konto zu kündigen, wenn er nicht zustimmt, was sicher nicht in seinem Sinne ist“, sagt Wurm. Letztlich sei die Bank gezwungen, die durch das AGB-Urteil entstehenden Kosten auf die Kunden umzulegen. „Die Kunden müssen den Aufwand bezahlen, haben aber nichts davon, und wir müssen Personal für die Einholung der Zustimmungen abstellen, das uns an anderer Stelle schmerzlich fehlt. Auch bei uns macht sich der Personalmangel immer stärker bemerkbar, da wäre es doch sinnvoller, Bürokratie abzubauen, damit die Mitarbeiter mehr Zeit für wertschöpfende Tätigkeiten haben. Mit Bürokratie wird keinerlei volkswirtschaftlicher Mehrwert geschaffen“, sagt Wurm.

Gesetzgeber sattelt immer noch eins drauf

Auch an anderer Stelle sorgten überzogene Verbraucherschutzvorgaben für unnötigen Mehraufwand ohne Mehrwert für die Kunden, berichtet Wurms Vorstandskollege Stahl, vor allem bei Finanzierungen und in der Wertpapierberatung. Der GVB weist immer wieder auf zahlreiche Verbraucherschutzvorschriften und andere bürokratische Regelungen hin, die ohne Schaden für alle Beteiligten abgeschafft werden könnten. Stattdessen sattelt der Gesetzgeber immer noch eins drauf. So verfolgt die EU-Kommission mit ihrer Kleinanlegerstrategie das Ziel, Kleinanlegern den Zugang zu den Kapitalmärkten zu erleichtern. Dazu will sie unter anderem Anbietern von Wertpapieren weitere Informationspflichten auferlegen, um den Anlegerschutz zu stärken.

Dass immer weitere Informationspflichten den Verbraucherschutz nicht verbessern, merken Michael Wurm und Reinhard Stahl fast jeden Tag. „Egal, ob in gedruckter oder elektronischer Form, diese Kundeninformationen liest keiner“, sagt Stahl. Ganz früher habe ein Darlehensvertrag aus einem einseitigen Formular mit vierfacher Durchschrift bestanden, später dann aus einem zweiseitigen Vordruck. „Da konnte man den Kreditvertrag noch in Ruhe mit dem Kunden durchgehen, die Bestimmungen waren transparent und fair. Heute informieren wir die Kunden nicht nur über den Zins, sondern auch über den Referenzzinswert und welche Regelungen gelten, wenn der Zins ausläuft. Das ist so kompliziert, das versteht doch kein normaler Mensch mehr“, sagt Stahl.

Ganz haben die beiden Bankvorstände aus Bad Kötzting die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass beim Bürokratieabbau den Beteuerungen der Politiker doch noch Taten folgen. Immerhin hat die aktuelle Bundesregierung das sogenannte Bürokratieentlastungsgesetz IV beschlossen. Damit tatsächlich etwas vorangeht, müsste in Deutschland auf mehreren Ebenen etwas passieren, finden Wurm und Stahl. So bietet die Digitalisierung von Leistungen und Abläufen ein hohes Effizienzpotenzial, wenn man es richtig angehe. „Wir brauchen mehr Mut, auch bei digitalen Leistungen den Kundennutzen in den Vordergrund zu stellen“, sagt Wurm. Wichtig sei außerdem, möglichst einheitliche und schlanke Prozesse aufzusetzen. „Wenn wir einen digitalen Prozess haben, aber jeder andere Standards setzt oder noch etwas draufsattelt, dann bringt uns das nicht weiter“, ergänzt Stahl.

„Um Bürokratie effektiv abzubauen, braucht es knallharte Vorgaben von oben.“

Michael Wurm, Raiffeisenbank Bad Kötzting

Zweitens brauche es „knallharte Vorgaben von oben“, wie Wurm formuliert. „Der Gesetzgeber muss das Ziel klar vorgeben, zum Beispiel 20 Prozent weniger Regulierung in diesem oder jenem Bereich. Bloße Absichtsbekundungen der Politik verlaufen doch regelmäßig im Sand.“ Und drittens müssten sich auch die gesellschaftlichen Anforderungen verändern. „Wir neigen dazu, alles bis ins letzte Detail regeln und kontrollieren zu wollen. So sind wir als Gesellschaft erzogen. Jeder will sich absichern, damit er aus dem Schneider ist, falls doch etwas passiert“, sagt Stahl. Doch das funktioniere nicht, sondern öffne dem Bürokratismus Tür und Tor. „Man kann im Leben nicht allen Problemen vorbeugen, auch nicht als Staat. Wir müssen als Gesellschaft angstfreier werden und lernen, Risiken auch mal zu akzeptieren“, fordert Wurm. Es brauche Mut, nicht nur neue Regeln zu erlassen, sondern auch mal welche wegzulassen. Dessen müsse sich die Gesellschaft bewusstwerden. Wurm: „In Deutschland gilt unausgesprochen der Leitsatz: Wenn man nichts mehr hinzufügen kann, ist das Optimum erreicht. Dabei bräuchte es eigentlich das Motto: Man ist am Ziel, wenn man nichts mehr weglassen kann.“

„Eine konsequente Digitalisierung führt zu mehr Effizienz“

Drei Fragen zum Bürokratieabbau an Robert Mayr, Vorstandsvorsitzender der Datev eG:

Als Genossenschaft der steuerlichen Berater ist die Datev über ihre Mitglieder nah am Puls des Mittelstands. Welchen Stellenwert hat das Thema Bürokratie aus Ihrer Sicht für die Unternehmen in Deutschland?

Robert Mayr: Der Kampf mit bürokratischen Hindernissen ist ein drängendes Problem für viele Unternehmen in Deutschland. Wir führen regelmäßig eine Befragung unter den Steuerberatern durch – den „DATEV Seismografen“. In der aktuellen Welle dieser Studie gibt knapp die Hälfte der befragten Kanzleien an, dass ihre Mandantschaft unter dem Themenblock Überregulierung und Bürokratie zu leiden hat. Damit ist er auf die erste Position der Problemfelder vorgerückt und hat sogar den Fachkräftemangel in der Wahrnehmung überholt. Auf Rang drei steht die Belastung durch steigende Zinsen und Finanzierungskosten.


Wo sehen Sie Ansatzpunkte, um diese bürokratischen und regulatorischen Hemmnisse sinnvoll und effektiv zu reduzieren?

Mayr: Obwohl sich nahezu jede Regierung in jüngerer Zeit den Abbau von Bürokratie vorgenommen hat, sind Regulierungen und Vorgaben in Summe eher gewachsen. Wir müssen uns also mit einem gewissen Maß an bürokratischen Regeln arrangieren und nach Mitteln suchen, die den Weg durch den Bürokratiedschungel vereinfachen. Ein solches Mittel sehen wir in einer konsequenten Digitalisierung, die in unterschiedlichsten Bereichen zu mehr Effizienz führt. Nicht zuletzt künstliche Intelligenz (KI) ist dabei prädestiniert, für Entlastung zu sorgen. So steckt in einigen Anwendungen der Datev schon heute KI und sorgt dafür, über Automatisierung manuellen Aufwand zu reduzieren. Das Anwendungsspektrum ist dabei weit gefächert und schließt beispielsweise Unterstützung beim Buchen von Rechnungen, bei der Prognose der Liquidität von Unternehmen oder bei der Ermittlung marktüblicher Gehälter für Beschäftigte ein. Über solche Automatisierungsschritte lässt sich Bürokratie zwar nicht abschaffen, aber ein Stück weit beherrschbarer machen. Technisch ist das problemlos vorstellbar. Was es aber neben den technischen Möglichkeiten erfordert, ist ein tieferes Umdenken. Um einen größtmöglichen Effizienzgewinn zu erreichen, müssen wir die Abläufe rund um Compliance-Erfordernisse möglichst lückenlos digital abbilden.


Was muss Ihrer Ansicht nach passieren, dass beim Bürokratieabbau außer Sonntagsreden tatsächlich etwas vorangeht?

Mayr: Da lässt sich schwer ein Patentrezept entwickeln. Schließlich sind politische Entscheidungen meist vom Ringen um einen Kompromiss geprägt. Und gerade der Anspruch, möglichst gerechte Regeln zu schaffen, sorgt oft für Wildwuchs, wie ein Blick auf die deutsche Steuergesetzgebung schnell deutlich macht. Da freut es mich umso mehr, wenn bürokratische Vorgaben auch einmal eindeutiges Effizienzpotenzial bedeuten. Das ist etwa bei der E-Rechnung der Fall, die von 2025 an für Umsätze zwischen Unternehmen, also im sogenannten B2B-Geschäft verpflichtend werden soll. Sie wird ein Booster für die digitale Transformation in Deutschland werden, indem sie den gesamten, dann datenbasierten Rechnungsprozess deutlich schlanker, transparenter und auch effizienter macht.


Herr Mayr, vielen Dank für das Interview!

Überlandzentrale Mainfranken: An der Grenze der Belastbarkeit

Überbordende Regulatorik und Bürokratismus gibt es nicht nur bei den Banken, sondern in jeder Branche – die einen sind etwas weniger betroffen, viele andere dafür umso mehr. Heftig gebeutelt wird auch der Energiesektor. Was das für die bayerischen Energiegenossenschaften bedeutet, weiß Jürgen Kriegbaum aus eigener Anschauung. Er ist geschäftsführender Vorstand der Überlandzentrale Mainfranken eG. „Als große Energiegenossenschaft sind wir sowohl als Verteilnetzbetreiber mit unserem Stromnetz und Stromvertrieb in Mainfranken als auch als Projektentwickler und Betreiber von Anlagen zur Erzeugung von regenerativer Energie aktiv. Trotz flacher Hierarchie, kurzen Entscheidungswegen und motivierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern kommen wir aktuell an die Grenze der Belastbarkeit sowohl in personeller als auch finanzieller Hinsicht“, schildert er die Folgen der ausufernden Regulierung im Energiesektor.

Deutschland will seine Treibhausgasemissionen bis zum Jahr 2030 um mindestens 65 Prozent im Vergleich zum Jahr 1990 reduzieren. Bis 2045 soll Deutschland sogar treibhausgasneutral werden. Um diese ambitionierten Ziele der Bundesregierung zu erreichen, brauche die Energiewende eine hohe Dynamik, sagt Kriegbaum. Dafür seien verlässliche politische und regulatorische Rahmenbedingungen notwendig, um keine Investoren abzuschrecken. „Aktuell unterliegen wir jedoch einer Vielzahl von neuen Verordnungen, Gesetzen und Vorgaben, die im Ansatz sinnvoll und notwendig sind, in der praktischen Umsetzung und Auslegung jedoch viele Fragen offenlassen und in der Bearbeitung eine Flut von Nachbesserungen erfordern“, klagt Kriegbaum.

5.700 verschiedene Vergütungsregeln

Im Kundenservice zum Beispiel habe der Gesetzgeber die Energieversorger bei der äußerst kurzfristigen Abwicklung der Energiepreisbremsen mit ihren Unzulänglichkeiten schlichtweg alleine gelassen, kritisiert Kriegbaum. Eine große Herausforderung seien auch die komplizierten Abrechnungsmodalitäten für Anlagen, die Strom nach dem Erneuerbare-Energien-Gesetz einspeisen (EEG-Anlagen). „Die zahllosen Sonderregeln im EEG von rund 130 Seiten Umfang, mittlerweile 5.700 verschiedene Vergütungskategorien, die Umsetzung von Beschlüssen der mittlerweile eingerichteten EEG-Clearingstelle sowie eine Vielzahl von Melde- und Nachweispflichten mit Doppelmeldungen in verschiedenen Registern und Portalen überfordern gerade die ländlichen Energiegenossenschaften massiv. In Bezug auf Personal, Technik und IT werden ihre Ressourcen gerade an die Wand gefahren“, bemängelt der geschäftsführende Vorstand der ÜZ Mainfranken.

Bei der Entwicklung von Energiewende-Projekten mache sich das Fehlen verlässlicher Rahmenbedingungen negativ bemerkbar. Zwar habe der Gesetzgeber viele Erneuerbare-Energien-Projekte privilegiert und etliche bürokratische Hemmnisse vor allem bei Naturschutzauflagen gemindert. „Trotzdem bleiben viele Vorhaben erstmal in der Schwebe, weil es bei den beteiligten Behörden und Marktteilnehmern unterschiedliche Wissensstände gibt. Wegen der hohen Änderungsdynamik bei zahllosen Gesetzen und Verordnungen sind viele Sachverhalte bei den Ansprechpartnern vor Ort noch gar nicht angekommen“, schildert Kriegbaum die Situation. Zudem verzögerten sich viele Projekte, weil es an Personal für die Umsetzung fehle. „Um solche Vorhaben unter den aktuellen Rahmenbedingungen trotzdem voranzutreiben, müssen wir einen sehr großen Aufwand betreiben. Weil oft mehrere der genannten Probleme zusammenkommen, ist der Projektablauf häufig extremen Schwankungen unterworfen“, berichtet Kriegbaum.

Beim Netzausbau hakt es gewaltig

Ein zentraler Punkt, um die Energiewende schnell und erfolgreich umzusetzen, sei der zügige Ausbau des Verteilnetzes, sagt der geschäftsführende Vorstand der ÜZ Mainfranken. Doch auch hier hake es gewaltig. „Um den dringend benötigten Ausbau zu beschleunigen, muss der bürokratische Aufwand sowie der bestehende Ordnungsrahmen auf den Prüfstand“, fordert Kriegbaum. Vor allem die Finanzierungsbedingungen müssten verbessert und die Mehrkosten zur Integration der EEG-Anlagen in die Netze bundesweit fair verteilt werden. Dafür sei vor allem das gravierende Gefälle der Netzentgelte zwischen Stadt und Land verantwortlich. „Für uns als ländliche Energiegenossenschaft ist der Netzausbau aktuell schlichtweg nicht finanzierbar“, kritisiert Kriegbaum.

Ohne Netzausbau keine Energiewende

Es gebe jedoch Bestrebungen, die überbordende Regulatorik im Energiebereich etwas einzudämmen, berichtet der geschäftsführende Vorstand. „Alle Verwaltungsebenen müssen in den von Bund und Ländern angestoßenen Prozess der Entbürokratisierung einbezogen werden. Außerdem sollten sie für die praktischen Probleme bei der Umsetzung von EEG-Projekten sensibilisiert werden. Hier fehlen teilweise die Offenheit und auch das Verständnis für die Herausforderungen eines Projektentwicklers oder eines ländlichen Verteilnetzbetreibers mit überproportionaler Einspeiseleistung aus EEG-Anlagen“, berichtet Kriegbaum. Er sieht jedoch auch Bewegung bei den Behörden. „Als größte Energiegenossenschaft Bayerns stellen wir durchaus fest, dass wir sowohl bei den Verbänden als auch bei unseren Ansprechpartnern in den Behörden und Ministerien sowie parteiübergreifend bei den politischen Mandatsträgern Gehör und Anerkennung finden. Dadurch konnten wir unsere Anliegen platzieren und konstruktiv die dringend notwendigen Prozesse vorantreiben.“

Trotzdem sei weiterhin Eile geboten. Die Bundesnetzagentur sei gefordert, mit ihren gestärkten Kompetenzen das regulatorische Umfeld zeitnah an die Herausforderungen der Energiewende anzupassen. „Die Stromnetzinfrastruktur ist die entscheidende Größe für das Erreichen der Klimaziele. Ohne diese Infrastruktur können Windkraft- und Photovoltaik-Anlagen keinen Strom einspeisen, E-Autos nicht geladen werden und Wärmepumpen nicht heizen“, mahnt Kriegbaum. Die Politik dürfe sich zudem nicht im parteipolitischen Kleinklein verlieren. Damit die Energiewende gelingen könne, müssten die Stromnetze zügig ausgebaut, digitalisiert und weiterentwickelt werden. „Es ist wichtig, Hemmnisse jetzt zu beseitigen, um die Klimaziele nicht zu gefährden. Hier ist ein länder- und parteipolitisch übergreifender Konsens erforderlich, um faire und gleichartige Rahmenbedingungen für den Netzausbau zu schaffen.“

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