Der 62-jährige und bereits fast erblindete Friedrich Wilhelm Raiffeisen reiste im Oktober und November 1880, begleitet von seiner Tochter Amalia, durch Österreich, Bayern, Oberschlesien und Württemberg, um für seine Darlehenskassen-Vereine zu werben. In einigen Briefen an die Familie beschwerte er sich über die Anstrengungen der Fahrt, zudem plagte ihn die Kälte. Deshalb wollte er sich in Regensburg einige Tage ausruhen. Trotz seiner Leiden nahm Raiffeisen die Einladung an, auf einer öffentlichen Versammlung des „Landwirthschaftlichen Vereins der Oberpfalz und von Regensburg“ zu sprechen. Er wollte „Orientierungshilfe“ für gründungswillige Anhänger der Genossenschaftsidee bieten.
Die Versammlung fand im königlichen Regierungsgebäude zu Regensburg, heute Sitz der Regierung der Oberpfalz, statt. „Der Bauernfreund. Landwirthschaftliche Mittheilungen“, herausgegeben vom „Kreis-Comité des landwirthschaftlichen Vereins der Oberpfalz und von Regensburg“ berichtete über die Veranstaltung. Das Ansinnen Raiffeisens war es, dort nicht nur über sein System und seine Organisation zu sprechen, sondern die bayerischen Kreditvereine für eine mögliche Angliederung an den drei Jahre zuvor in Neuwied gegründeten Generalverband der Deutschen Raiffeisengenossenschaften zu gewinnen.
Zum Zeitpunkt des Regensburger Auftritts Raiffeisens waren in Süd- und Westdeutschland bereits zahlreiche landwirtschaftliche Kreditvereine nach seiner Idee gegründet worden. Sie hatten dazu beigetragen, dass der ländlichen Bevölkerung die Raiffeisen-Darlehenskassen allmählich vertraut wurden. Zudem unterstützten sie die Gründung weiterer Genossenschaften, halfen bei Fragen zur Betriebsführung und führten Prüfungen durch. 1877 hatte der Sekretär des landwirtschaftlichen Kreis-Comités in Aschaffenburg, Louis Löll, zusammen mit dem Landwirt Kilian Wallrapp die erste eingetragene Kreditgenossenschaft in Theilheim nahe Würzburg gegründet. Drei Jahre später, zum Zeitpunkt des Auftritts von Raiffeisen in Regensburg, waren um die 20 Spar- und Darlehenskassenvereine in Bayern aktiv.
Aufgrund seines Lebenswerks wurde Raiffeisen bei der Regensburger Versammlung als „Autorität mit eminenter Bedeutung“ begrüßt, berichtete der „Bauernfreund“. Während seines Vortrags „ließ er seine moralische Kraft wirken“. Raiffeisen, konservativ und streng gläubig, betonte, dass das Geistige und das Materielle für ihn in den Vereinen in Wechselwirkung stehen. Sorge man für das materielle Wohl, so ebne man sich das Feld für die Wirksamkeit in der Seelsorge. In der im Glauben und in der Liebe übernommenen Arbeit für die Geringsten liege die Lösung der sozialen Frage. Das sollte die Antriebskraft der Gründer sein und die Ausdauer der Leitenden sichern, so Raiffeisen. Es gehe daher nicht darum, zahlreiche Vereine zu gründen, sondern sie nachher auch gut zu führen.
Ein ebenso wichtiges Ziel der Vereine sei die gründliche Beseitigung des Wuchers, so gab das Blatt Raiffeisen wieder. Dazu wäre die Bereitstellung von Krediten durch die Darlehenskassen-Vereine das effizienteste Heilmittel. Abgesehen von der Geldbeschaffung hatten diese in seiner Vision noch einen unschätzbaren Wert als „Schule für die älteren Einwohner“. Raiffeisen stellte sich vor, dass die Älteren in den Vereinsversammlungen zu der Einsicht gebracht werden könnten, sie hätten selber mehr lernen sollen. So sollte der Wunsch erweckt werden, die eigenen Kinder besser ausbilden zu lassen. Der Mensch werde nicht zu alt zum Lernen. Wenn der Bauer sehe, dass er von dem Lernen einen Nutzen habe, so werde er schon die Ohren spitzen, zitiert der „Bauernfreund“ den Genossenschaftsgründer. Auf dieser Grundlage würden sich in den Versammlungen lehrreiche Diskurse entwickeln, die auch als eine Art Erwachsenenbildung dienen könnten.
Den „Systemstreit“ mit Hermann Schulze-Delitzsch um das bessere Genossenschaftskonzept erwähnte Raiffeisen zwar nicht explizit, stellte aber im Rahmen seiner Rede wiederholt fest, welche Unterschiede die beiden Konzepte etwa bei der Kapitalbeschaffung, beim Erwerb von Geschäftsanteilen und bei der Vergabe von Krediten an Nichtmitglieder voneinander trennten.
Raiffeisen in Bayern
Viele Anhänger und Befürworter der Genossenschaftsidee haben das Leben und Wirken Friedrich Wilhelm Raiffeisens in Bayern bekannt gemacht. Der Genossenschaftsgründer besuchte das damalige Königreich aber auch persönlich und sprach vor interessierten Zuhörern und Anhängern. Bekannt sind neben dem Vortrag am 23. Oktober 1880 im königlichen Regierungsgebäude zu Regensburg zwei weitere Auftritte Raiffeisens in Bayern: Im Mai 1880 redete er im unterfränkischen Prosselsheim, wo mit Pater Kolb einer seiner engen Vertrauten tätig war. Außerdem sprach Raiffeisen im Oktober 1883 in Würzburg. Zehn Jahre später waren in Bayern bereits hunderte von Spar- und Darlehenskassen entstanden.
Rege Diskussion nach dem Vortrag
Laut dem Bericht im „Bauernfreund“ entwickelte sich nach dem Vortrag eine rege Diskussion, an der auch Otto May teilnahm, späterer Mitbegründer des Bayerischen Landesverbands landwirtschaftlicher Darlehenskassenvereine in München sowie erster Direktor der Bayerischen Zentral-Darlehenskasse. May betonte, dass auch die „Schulze‘schen Vereine“ viel Segen gebracht hätten, für die ländliche Bevölkerung jedoch definitiv nicht geeignet seien.
Einigkeit herrschte in der Versammlung über die Zweckmäßigkeit und den Nutzen des Raiffeisensystems für die bayerische ländliche Bevölkerung. Zum Schluss der Versammlung sagte der Vorsitzende des Kreis-Comités, königlicher Regierungspräsident Maximilian von Pracher, seine Unterstützung bei der Gründung von weiteren Darlehenskassen-Vereinen zu: Das Kreis-Comité erachte nun den Augenblick als gekommen, „in dieser wichtigen Angelegenheit thatkräftig vorzugehen, daß es die hierfür nöthigen Einleitungen und Anregungen geben werde und bereit sei, da wo Genossenschaften sich bilden, mit Rath und That an die Hand zu gehen (…), kurz in jeder Weise für die Gründung von solchen Darlehenskassenvereinen thätig sein werde“.
Sein Werben zeigte Wirkung
Raiffeisens Werben für die Darlehenskassen-Vereine zeigte Wirkung: Wie sowohl die Korrespondenz zwischen Comité und Kreditvereinen im Kreis Aschaffenburg als auch die Jahresberichte der bayerischen Kreis-Comités belegen, folgten in den 1880er Jahren viele Gründungen von Spar- und Darlehnskassenvereinen. Nicht alle Vereine konnten sich stabil entwickeln. Zudem herrschte während dieser Phase eine gewisse Uneinheitlichkeit, nicht nur in der Benennung der Vereine, sondern auch in der internen Organisation der genossenschaftlichen Betriebe.
Eine Standardisierung der Abläufe sowie die Betreuung- und Kontrollfunktion hatten bis zur Gründung der Landesorganisationen die Comités in Zusammenarbeit mit der Raiffeisenzentrale Neuwied inne. 1885 wurde der Mittelfränkische Kreisverband in Ansbach ins Leben gerufen, der 1889 die Revisionstätigkeit für über 70 Vereine übernahm, die nicht an die Organisation in Neuwied angebunden waren. 1893 folgten die Gründungen der Landesverbände in München und Nürnberg, wobei die Nürnberger Organisation sich als Untergliederung Neuwieds positionierte. Erst ab 1934 entstand in Bayern der einheitliche Bayerische Landesverband landwirtschaftlicher Genossenschaften-Raiffeisen mit Sitz in München.
Silvia Lolli Gallowsky ist Geschäftsführerin des Historischen Vereins Bayerischer Genossenschaften. Auf der Suche nach Berichten zu Raiffeisens Auftritten in Bayern blätterte sie in der Bayerischen Staatsbibliothek in München durch unzählige historische Zeitungsausgaben. Zu den Vorträgen in Würzburg und Prosselsheim fand Gallowsky keine Quellen. Umso erfreuter war sie, als sie die umfangreiche Berichterstattung des „Bauernfreunds“ über Raiffeisens Besuch 1880 in Regensburg entdeckte.