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Herr Weber, wenn Sie die Arbeit der aktuellen EU-Kommission zur Halbzeit bewerten: Wie fällt Ihr Zwischenfazit aus – insbesondere im Hinblick auf die Leistungen der EU für die Bürger und die Wirtschaft Europas?

Manfred Weber: Die aktuelle Kommission hat eine Menge Themen angepackt – vom Klimaschutz über die Digitalisierung bis hin zum Kampf gegen Krebs. Aber die EU ist ein großer Tanker. Es dauert seine Zeit, bis Gesetze beschlossen und umgesetzt sind. Dennoch ist bereits einiges gelungen. Hinzu kommt, dass durch die Pandemie und Russlands Angriff auf die Ukraine weiterhin das Krisenmanagement im Vordergrund steht. Die Menschen wissen, dass die EU die Lebensversicherung in einer immer komplexeren Welt ist. Und die Wirtschaft ist insgesamt robust, wenngleich die Krisen natürlich zu Einbrüchen führen.

„Nur gemeinsam können wir globalen Konkurrenten wie China oder Russland die Stirn bieten. Deutschland allein ist dafür zu schwach.“

Mit der Corona-Pandemie und dem Ukraine-Krieg muss Europa kurz hintereinander zwei Ausnahmesituationen bewältigen. Wie bewährt sich die EU in diesen Situationen?

Weber: Die Situation wäre katastrophal, wenn Europa nicht zusammenarbeiten würde. Große Erfolge, wie die Entwicklung von COVID 19-Impfstoffen und gemeinsame Corona-Reiseregelungen, wären ohne die EU nicht möglich gewesen. Nach Russlands Überfall auf die Ukraine hat sich die EU als echter Machtfaktor erwiesen. Putin weiß, wenn die EU zusammenhält, dann wird es für ihn schwer. Das tut sie bisher und das ist wichtig. Denn nur gemeinsam können wir globalen Konkurrenten wie China oder Russland die Stirn bieten. Deutschland allein ist dafür zu schwach. Aber die Krisen zeigen auch auf, welche Defizite die EU hat, Stichwort mangelnde Handlungsfähigkeit durch ihre Strukturen oder fehlende Verteidigungsfähigkeit.
 

Was sind aus Ihrer Sicht die drei wichtigsten Herausforderungen, vor denen die EU in den kommenden Jahren steht?

Weber: Die wirtschaftliche Entwicklung und Zukunftssicherheit, die Sicherheitslage in Europa verbunden mit dem globalen Kampf der Systeme und der Klimaschutz sind sicher die Hauptaufgaben. So viele Krisen wie derzeit hat es parallel noch nie gegeben. Dies wird unsere freiheitlich-demokratische Gesellschaft massiv herausfordern.

„Wenn die EU handlungsfähiger werden will, dann kommen wir um eine weitgehende Reform nicht herum.“

Ist die EU diesen Herausforderungen strukturell gewachsen?

Weber: Nein, dafür ist die EU noch nicht fit genug. Die EU hat viele Aufgaben in der Vergangenheit gemeistert. Heute aber reichen die Strukturen und Werkzeuge nicht mehr aus. Wenn die EU handlungsfähiger werden will, um ihre Souveränität zu behaupten und gleichzeitig neue Mitglieder aufnehmen will, um Frieden in Europa zu sichern, dann kommen wir um eine weitgehende Reform nicht herum.

Im Mai 2022 endete die Konferenz zur Zukunft Europas, die Sie aktiv begleitet haben. Der Abschlussbericht enthält 49 Vorschläge der europäischen Bürgerinnen und Bürger, wie sie sich die Zukunft Europas vorstellen. Welche Erkenntnisse leiten Sie aus dem Bericht für sich ab?

Weber: Die Konferenz hat ihre Ergebnisse zur richtigen Zeit vorgelegt. Es sind bei der Einbindung der Bürgerinnen und Bürger, der verschiedenen Interessengruppen und politischen Ebenen neue Wege gegangen worden – mit Erfolg. Der Abschlussbericht schreibt allen Führungspersönlichkeiten in Europa sehr deutlich ins Stammbuch, wo die Defizite der EU sind.
 

In einem Tweet haben Sie anlässlich des Abschlussberichts der Konferenz zur Zukunft Europas gefordert, die EU müsse stärker, effektiver, demokratischer und ehrgeiziger werden. Wo sehen Sie auf diesen Feldern die größten Defizite?

Weber: Die EU ist an sich eine einmalige Erfolgsgeschichte: Dazu gehören der wirtschaftliche Erfolg Europas, die Überwindung der Teilung unseres Kontinents, die Etablierung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit und vor allem die Friedensgarantie für ihre Mitglieder seit 70 Jahren. Aber die Herausforderungen haben sich fundamental gewandelt. Ich nenne nur einige Beispiele: Die globale Machtstruktur ändert sich durch den rasanten Aufstieg Chinas, der die Demokratien zudem systemisch herausfordert. Die Wirtschaftswelt entwickelt sich durch die Digitalisierung so weiter, dass nahezu alle Branchen einen tiefgreifenden Wandel erfahren. Die Klimakatastrophe erfordert ein weltweit abgestimmtes und entschiedenes Handeln. Und der russische Angriffskrieg greift unsere europäische Vorstellung des Lebens grundlegend an und gefährdet Europas Sicherheitsordnung. Für all diese Herausforderungen und viele andere mehr reicht die heutige Systematik der EU nicht mehr aus. Um dies anzupacken, muss sich die EU von innen heraus erneuern, denken Sie nur an den bisherigen Zwang zur Einstimmigkeit in Fragen der Außen- und Verteidigungspolitik.

„Europa ist immer das sprichwörtliche Bohren dicker Bretter.“

Hand aufs Herz: Was wird im politischen Gerangel zwischen Parlament, Rat und Kommission am Ende von den 49 Vorschlägen übrigbleiben?

Weber: Europa ist immer das sprichwörtliche Bohren dicker Bretter. Die Vorschläge der Konferenz sind weitgehend und eine sehr gute Grundlage für die Entscheidungen, gerade wenn es um die Handlungsfähigkeit der EU oder die weitere notwendige Demokratisierung geht. Das Europäische Parlament wird sehr genau darauf achten, dass die Vorschläge von den Regierungen nicht zerredet werden. Klar ist aber auch, dass am Ende des Tages nicht alle Vorschläge so umgesetzt werden, wie sie jetzt formuliert sind. Das ist in so einem weitgehenden Prozess aber normal.

„Wenn es um grundlegende Entscheidungen geht, kann die EU nicht immer auf den Langsamsten warten.“

Für einige der Vorschläge müssten die EU-Verträge geändert werden. Für wie realistisch halten Sie diese Möglichkeit vor dem Hintergrund der aktuellen politischen Lage in Europa?

Weber: Wenn sich Situationen fundamental ändern, und das tun sie derzeit, dann muss die EU dazu in der Lage sein, auch sich selbst zu verändern. Dafür wäre ein Konvent in der EU, der auch Vertragsänderungen ausarbeitet, die beste Lösung. Ich weiß, dass viele Sorge haben, dass Vertragsänderungen scheitern könnten. Das verstehe ich. Aber wenn die Staats- und Regierungschefs nicht bereit sind, mutig und entschlossen voranzugehen, dann wird Europa nicht in der Lage sein, die Zukunftsherausforderungen zu bestehen. Auch die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft in den 50er-Jahren, der Maastricht-Vertrag oder die Einführung des Euro wären ohne ein gewisses Risiko undenkbar gewesen. Es gibt zudem immer die Möglichkeit, dass eine Gruppe von Staaten vorangeht, wie beim Schengen-Raum oder der Einführung des Euro. Wenn es um solche grundlegenden Entscheidungen geht, kann die EU nicht immer auf den Langsamsten warten.
 

Die Konferenz zur Zukunft Europas hat gezeigt, wie Bürgerbeteiligung auf europäischer Ebene funktionieren kann. Im Alltag hingegen sehen viele Bürger und Unternehmen eher die Schattenseiten der EU, zum Beispiel die ausufernde Regulatorik und Bürokratie. Wie kann Europa für die Menschen wieder greifbarer werden?

Weber: Die beschriebenen Beispiele spiegeln vor allem eine Gefühlslage wider, aber nicht immer die Realität. Die Zustimmung zur EU wächst deutlich. Richtig ist, dass die EU für viele weiterhin weit weg und häufig nicht zu greifen ist. Deshalb sage ich immer wieder: Die EU muss zurück zu den Menschen kommen. Und das geht nur, wenn die Prozesse transparenter und anschaulicher werden, wenn klar ist, wer was entscheidet und wer für was zuständig ist. Die EU lebt von Konsens und Kompromiss. Und das hat auch viel Gutes, um die Interessen von 450 Millionen Menschen und 27 Ländern auszugleichen und in Einklang zu bringen. Aber den Wahlen zum Europäischen Parlament, der Bestimmung der EU-Kommission und den Entscheidungen im Europäischen Rat kommt eine herausragende Bedeutung zu. Die Menschen müssen die künftige Richtung in der EU über die Wahlen bestimmen können, national und europäisch. Das muss raus aus den Hinterzimmern. Die Realität ist da leider noch anders, wenn Sie beispielsweise sehen, welche untergeordnete Rolle die Europa-, Außen- und Sicherheitspolitik bei der deutschen Bundestagswahl gespielt haben. Heute wird durch den Krieg in der Ukraine deutlich, dass dies ein großer Fehler war.

„Durch die Verwurzelung in den ländlichen Räumen sind Genossenschaften ein kraftvolles Argument für lebendige Regionen.“

2016 wurde die Genossenschaftsidee von der UNESCO als immaterielles Kulturerbe der Menschheit anerkannt. Auf welchen Gebieten können Genossenschaften dazu beitragen, die wirtschaftlichen, ökologischen und sozialen Herausforderungen in Europa zu bewältigen?

Weber: Die Genossenschaftsidee ist seit Generationen eine starke Antwort auf wirtschaftliche, ökologische und soziale Herausforderungen. Genossenschaften sind mit ihrer besonderen Struktur Stabilitätsgaranten für eine mittelständische Wirtschaft vor Ort. Dies wird gerade in Krisenzeiten deutlich, weil Genossenschaften auf Nachhaltigkeit achten. Dies gilt auch für die Förderung einer bäuerlichen Landwirtschaft, die auf gesunde und regionale Nahrungsmittel setzt und auf die Pflege der Heimat und Kulturlandschaft. Genauso bieten Genossenschaften große Chancen für eine lokale und regionale Energieerzeugung. Durch die Verwurzelung in den ländlichen Räumen sind sie ein kraftvolles Argument für lebendige Regionen und funktionierende Strukturen und gegen die Abwanderung, wie es auch die Beispiele Nachbarschaftshilfen oder Wohnbaugenossenschaften zeigen.
 

Genossenschaften vertreten Werte wie Solidarität und Verantwortung. Sie ermöglichen soziale, kulturelle und ökonomische Partizipation – im Grunde sind das auch europäische Werte. Welches Potenzial haben Genossenschaften, Europa zu stärken – und was kann die EU tun, damit Genossenschaften dieses Potenzial noch besser entfalten können?

Weber: Genossenschaften sind treibende Kräfte für Wirtschaft, Gesellschaft und Wohlstand in ganz Europa. Sie verbinden Wirtschaftlichkeit mit Solidarität, stärken sozialen, wirtschaftlichen und regionalen Zusammenhalt. Deshalb muss es auch im Interesse der EU sein, die Genossenschaftsidee zu unterstützen. Ich fände es durchaus interessant, Genossenschaften innerhalb der EU besser zu vernetzen, um von verschiedenen Ideen und Modellen zu profitieren. Dies würde auch die Sichtbarkeit der Genossenschaften nochmal verbessern. Ich bin mir sicher, dass vielen Europäern die Rolle der Genossenschaften nochmal verstärkt deutlich gemacht werden kann.

„Entweder wir Europäer halten zusammen oder Europa wird in der Welt von morgen keine Rolle mehr spielen.“

Wenn Sie abschließend die Lage der EU vor dem Hintergrund der globalen Herausforderungen betrachten: Sehen Sie die Zukunft Europas mit Hoffnung oder mit Sorge?

Weber: Natürlich mit Hoffnung. Ich bin völlig überzeugt davon, dass wir nur gemeinsam als Europäer die Herausforderungen bestehen werden. Entweder wir halten zusammen oder Europa wird in der Welt von morgen keine Rolle mehr spielen. Und das wissen die Menschen und Regierungen sehr genau. Deshalb bin ich für die Zukunft optimistisch.
 

Herr Weber, vielen Dank für das Interview!


Der Europaabgeordnete Manfred Weber (49) ist Partei- und Fraktionsvorsitzender der Europäischen Volkspartei (EVP) sowie Stellvertretender CSU-Parteivorsitzender.

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