Bürokratie: Praxisferne Verbraucherschutzregeln verwirren, verunsichern und verärgern Bankkunden. So mancher Anleger und Sparer verliert deshalb das Interesse an qualifizierter Finanzberatung.
Herr Professor Paul, Sie haben im Auftrag der Deutschen Kreditwirtschaft untersucht, wie sich die Verbraucherschutzregeln MiFID II/MiFIR und PRIIPs auf Kunden und Banken auswirken. Sie beurteilen diese als „in ihrer Gesamtheit stark fragwürdig“. Warum?
Stephan Paul: Der zentrale Punkt ist, dass aus Sicht der Verbraucher die Relation zwischen dem Nutzen einerseits und den Belastungen andererseits nicht stimmt. Die Novellen verfolgen sinnvolle Ziele, entfalten jedoch in der Praxis gegenteilige Wirkungen. Beispielsweise ist die Idee, dass Anleger mithilfe umfassenderer Informationen aufgeklärtere Entscheidungen treffen sollen, an sich richtig. Wenn aber eine vom Kunden gefühlte informationelle Überflutung die Abhängigkeit vom Berater tendenziell verschärft, dieser sich jedoch vielfach selbst überfordert sieht, läuft etwas schief. Und wenn sich Privatanleger – entgegen den Zielen der Kapitalmarktunion – vom Kapitalmarkt zurückziehen, dann kehren sich die für den Verbraucher gedachten Regelungen gegen die Verbraucherinteressen.
„Was alle Anlegergruppen massiv stört, ist die verpflichtende Aufzeichnung von Telefongesprächen.“
Worüber beschweren sich die Bankkunden, die Sie für Ihre Studie befragt haben?
Paul: Die Beschwerden lassen sich mit drei Schlagworten zusammenfassen. Erstens: Hoher Zeitaufwand für die Lektüre unterschiedlichster Informationen vor und nach der Beratung und auch die Beratung selbst. Zweitens: Hohe, mitunter verwirrende Komplexität der übermittelten Informationen. Und drittens: Verlust von Individualität und Flexibilität in der Beratung, teilweise sogar das Gefühl einer Entmündigung. Besonders gestört fühlen sich die aufgeklärteren Private Banking- und Unternehmenskunden sowie „Viel-Trader“. Im Retail-Segment werden die Dinge weniger negativ betrachtet, dort hält man zum Beispiel die Bestands- und Verlustschwellenreports überwiegend für sinnvoll. Was jedoch alle Anlegergruppen massiv stört, ist die verpflichtende Aufzeichnung von Telefongesprächen.
„Gerade kleine und mittlere Banken werden zunehmend durch die Regulierungsvorschriften getrieben und haben immer weniger Zeit, sich strategisch wichtigeren Themen anzunehmen.“
Sie haben auch die Kreditinstitute zu den Auswirkungen von MiFID II und Co. befragt. Welchen direkten und indirekten Belastungen sehen sich insbesondere die kleinen und mittleren Banken ausgesetzt?
Paul: Zunächst einmal tragen die Institute bekanntermaßen hohe Kosten für die Einführung der MiFID und nun auch im laufenden Betrieb. Dabei binden die Novellen nicht nur monetäre, sondern auch personelle Ressourcen, sodass andere Projekte vielfach auf der Strecke bleiben. Gerade kleine und mittlere Banken werden so zunehmend durch die operative Umsetzung von Regulierungsvorschriften getrieben und haben immer weniger Zeit, sich strategisch wichtigeren Themen – etwa im Kontext der Digitalisierung – anzunehmen. Zugleich führt der steigende Kostendruck zu Effizienzmaßnahmen aufseiten der Institute. So werden immer mehr Filialen geschlossen, Beratung findet vielfach nicht mehr in der Fläche statt, einzelne Kundensegmente werden immer stärker standardisiert angesprochen, und das Produkt- und Leistungsangebot wird eingeschränkt. Dass sich derartige Maßnahmen negativ auf Kunden und Verbraucher auswirken, liegt auf der Hand.
Starke Belastung
Laut der Studie von Professor Paul lagen die Kosten für die Implementierung von MiFID II/MiFIR und PRIIPs bei kleinen und mittleren Banken bei durchschnittlich 218.000 bis 911.000 Euro. Die laufenden Kosten summieren sich bei den befragten Instituten kleiner und mittlerer Größe auf durchschnittlich 44.000 bis 182.000 Euro pro Jahr, so die Untersuchung.
Wohin führt die starre Regulierung in letzter Konsequenz – auch im Hinblick auf die private Altersvorsorge?
Paul: Viele der befragten Kunden reduzieren ihre Kapitalmarkt-Engagements und jeder achte Kunde gibt an, sich angesichts der Neuregelungen sogar vollständig von den Kapitalmärkten zurückzuziehen oder zurückziehen zu wollen. Wenn unerfahrene Anleger zum Beispiel vor schwer durchschaubaren, stark gehebelten Derivate-Transaktionen geschützt werden, ist das sicherlich gut. Der Rückzug betrifft aber auch Asset-Klassen, die im Kontext einer ausgewogenen Depot-Strategie von hoher Bedeutung sind – etwa Aktien, Anleihen und Fonds. Gerade angesichts einer immer weiter ansteigenden Rentenlücke führt an Kapitalmarkt-Produkten aber letztlich kein Weg vorbei.
„Ein sinnvoller Erste-Hilfe-Schritt wäre die Einführung einer Verzichtsmöglichkeit für bestimmte Informationen und auch die Telefonaufzeichnung.“
Welchen konkreten Nachbesserungsbedarf sehen Sie bei den bestehenden Regelwerken MiFID II/MiFIR und PRIIPs, um den Verbraucherinteressen besser Rechnung zu tragen?
Paul: Ein sinnvoller „Erste-Hilfe-Schritt“ wäre die Einführung einer Verzichtsmöglichkeit für bestimmte Informationen und auch die Telefonaufzeichnung aufseiten des Kunden. Dabei muss man die Kunden natürlich zunächst ausführlich über die Haftungs- beziehungsweise Verantwortungskonsequenzen eines solchen Aufklärungsverzichts informieren. Dann könnten sie selbst entscheiden, welche Informationen sie wünschen und welche nicht. Um ein zu weitgehendes Unterlaufen der Aufklärungs- und Informationspflichten zu unterbinden, sollte man die Verzichtsmöglichkeiten kaskadenartig an quantitativen Voraussetzungen auf Kundenseite ausrichten.
Einige Verschärfungen gehen auch auf die deutsche Umsetzung der EU-Verbraucherschutzregeln zurück. Was kann der deutsche Gesetzgeber unternehmen, um die Vorschriften im Sinne der Verbraucher zu entschärfen?
Paul: Man muss sich die Frage stellen, wohin das sogenannte „Gold-Plating“ letztlich führt und führen soll. Wollen wir ein echtes „Level Playing Field“, in dem gilt „gleiches Geschäft, gleiches Risiko, gleiche Regulierung“, oder wollen wir unterschiedliche regulatorische Geschwindigkeiten und „Härtegrade“ in Europa – mit entsprechenden Konsequenzen für den Wettbewerb? Diese grundsätzliche Frage stellt sich nicht nur im Kontext von MiFID II und Co., sondern – denken wir nur an die Bankenunion – im gesamten europäischen Regulierungskanon.
Ein vernünftiger Anleger- und Verbraucherschutz ist wichtig. Wie lässt sich das Schutzbedürfnis der Verbraucher sicherstellen, ohne sie zu überfordern und ihr Recht auf Selbstbestimmung zu beschneiden?
Paul: Im Kern muss hier sicherlich das Schlagwort „Financial Literacy“ stehen. Um eigenverantwortliche, aufgeklärte Entscheidungen treffen zu können und Empfehlungen von Beratern kritisch zu hinterfragen, brauchen wir eine bessere finanzielle Allgemeinbildung – im Idealfall bereits von Kindesbeinen an. Und wenn die Menschen die grundlegenden Zusammenhänge auf den Finanzmärkten besser verstehen, dürfte das auch die von uns kritisierte Problematik informationeller Überforderung stark abmildern. Wir dürfen gespannt sein, was sich in diesem Bereich noch tut. Auf der Agenda haben Bundesregierung und Kommission das Thema ja schließlich.
Herr Professor Paul, vielen Dank für das Interview!
Zur Person
Professor Dr. Stephan Paul ist Inhaber des Lehrstuhls für Finanzierung und Kreditwirtschaft an der Ruhr-Universität Bochum sowie geschäftsführender Vorstand des Instituts für Kredit- und Finanzwirtschaft (IKF) in Bochum.