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Deutschland braucht einen Aufbruch – so hieß es gleich im ersten Absatz des Sondierungspapiers von SPD, Grünen und FDP, das vor Beginn der Koalitionsverhandlungen veröffentlicht wurde. An Reformeifer scheint es den angehenden Koalitionären nicht zu fehlen. Das sind zunächst gute Voraussetzungen für ein Land, das in den vergangenen Jahren in vielen Bereichen Patina angesetzt hat.

Die entscheidende Frage ist jedoch: Wie werden die Beteiligten mit äußerst unterschiedlichen Staats- und Politikverständnissen ihren Gestaltungsanspruch in die Tat umsetzen? Welches Menschenbild und welches Verständnis von Wirtschaft legen sie zugrunde? Von Antworten auf diese Fragen hängt die künftige Entwicklung unserer Gesellschaft und unseres Wohlstands wesentlich ab.

Egal ob es um Klimaschutz, Energiepolitik, Haushalt oder Finanzen geht: Kompass sollte auch in Zukunft die Soziale Marktwirtschaft sein. Sie weist den Weg, garantiert Wachstum, Ausgleich und Fairness. Sie lässt der Wirtschaft den notwendigen Freiraum zur Entfaltung – und konzentriert die politische Gestaltungskraft darauf, die richtigen Leitplanken zu setzen. Was sind solche Leitplanken, innerhalb derer sich Wirtschaftsakteure frei entfalten können? Als erstes ist der starke Mittelstand zu nennen. Dieser kann ohne die Garantie, frei agieren zu können, nicht erfolgreich sein. Der Mittelstand braucht verlässliche Finanzierungsmöglichkeiten. Regionale Heimatbanken wie Volksbanken und Raiffeisenbanken sind hierfür ein zentraler Ansprechpartner und sichern so Wohlstand für die Zukunft.

„Regionale Heimatbanken brauchen keine Haftungsunion.“

Politik für den Mittelstand heißt deshalb zugleich: eine Politik, die den Besonderheiten der mittelständischen Regionalbanken gerecht wird. Zu diesen Besonderheiten gehört beispielsweise die genossenschaftliche Institutssicherung, die in ihrer Wirkkraft zugleich die Einlagen der Kunden schützt. Sie ist schon heute allen Planungen für eine Einlagensicherung auf europäischer Ebene überlegen. Pläne, die der undifferenzierten Gleichmacherei dienen wie die europäische Einlagensicherung EDIS, führen in die Irre. Prävention, regionale Strukturen, hohe Finanzausstattung, geringe Risiken und wenige ausfallgefährdete Kredite – das prägt die stabilen Kreditgenossenschaften. All dies zu opfern, um für die Schieflage vergleichsweise unsolider Bankengruppen anderswo zu haften, wäre höchst unsolidarisch. Für grenzüberschreitend tätige Großbanken mag so eine Haftungsunion Sinn ergeben. Regionale Heimatbanken brauchen sie nicht und sollten die Möglichkeit haben, bei EDIS außen vor zu bleiben, wenn ihre eigenen Sicherungssysteme hohe Standards erfüllen. Das der genossenschaftlichen Finanzgruppe erfüllt solche Standards.

„Dem Verbraucherschutz liegt oft das Bild eines unmündigen Verbrauchers zugrunde.“

Eine zweite Leitplanke für die künftige Politik sollte ein praxisnaher, zielgenauer Verbraucherschutz sein. Angebote von Banken sind zuletzt immer wieder infrage gestellt worden. Häufiges Argument: Eine bestimmte Maßnahme diene dem Verbraucherschutz. Was dabei oft übersehen wird, sind die Folgen, die Verbote oder andere massive Eingriffe in die Vertragsfreiheit haben können. All diesen Planungen liegt das Bild eines unmündigen Verbrauchers zugrunde.

Was könnten die Folgen sein, wenn für Dispozinsen oder Gebühren an Geldautomaten künftig politisch verordnete Preisdeckel gelten? Banken könnten entscheiden, entsprechende Leistungen nicht mehr anzubieten oder zurückzufahren. Das Bereitstellen von Geldautomaten ist kostspielig. Ein Preisdeckel führt zu weniger Geldautomaten. Er begünstigt Bankengruppen, die ihren Kunden kein Geldautomatennetz zur Verfügung stellen und bei den regionalen Heimatbanken mit ihrer flächendeckenden Präsenz Trittbrett fahren.

„Anleger sollten nicht anonymen Anbietern im Internet überlassen werden.“

Ähnlich verhält es sich bei Dispokrediten. Sie sichern den Kunden kurzfristig und ungeplant Liquidität. Für die Banken bedeutet dies Aufwand. Dieser Aufwand kostet mehr als ein geplanter Kredit. Dass Zinssatz und Nachfrage seit Jahren abnehmen, stört die Kritiker wenig. Wen soll es angesichts solcher Forderungen wundern, wenn Banken Dispos aus dem Programm nehmen?

Anderes Ungemach droht Verbrauchern vonseiten der Verbraucherschutzorganisationen, wenn es um Bankberatung geht. Sie finden zunehmend politischen Widerhall, wenn es darum geht, die Provisionsberatung ersatzlos abzuschaffen. Stattdessen sollen alle Anleger Honorarberatung in Anspruch nehmen – also für Beratung zahlen. Doch was folgt daraus? Anleger werden anonymen Anbietern im Internet überlassen, die gar keine Beratung bieten. Zu Ende gedacht sind derartige Forderungen jedenfalls nicht. Stattdessen gilt es, das Ideal des mündigen Verbrauchers zu verfolgen. Ihn gilt es, vor Betrug und Abzocke zu schützen – nicht aber vor freier Vertragswahl und damit selbstbestimmter Entscheidung. Das wäre dann echter Verbraucherschutz.

„Investitionen in die Zukunft, statt in die Verwaltung von Überkommenem – das muss der Wegweiser sein.“

Eine dritte Leitplanke, abgeleitet von der Idee der Sozialen Marktwirtschaft, ist eine solide Zukunftspolitik. Sie ist nötig, um dem Staat neue Spielräume zu eröffnen. Investitionen in die Zukunft, statt in die Verwaltung von Überkommenem – das muss der Wegweiser sein. Es ist nötig, Verkrustungen aufzubrechen und Probleme ernsthaft anzugehen, statt die Symptome mit weißer Salbe zu überdecken. Weniger Schulden und mehr Flexibilität. So lassen sich – nicht nur in Deutschland – neue Wachstumspotenziale heben und Wettbewerbsfähigkeit ausbauen. Dies würde auch der Europäischen Zentralbank (EZB) die Begründung für ihre Negativzinspolitik sowie die milliardenschweren Anleihekaufprogramme nehmen und Wachstumsspielräume erweitern.

Es gäbe noch mehr Leitplanken, die man nennen könnte. Allen gemein ist die Orientierung an der Sozialen Marktwirtschaft als Zukunftsmodell. Die kommenden zehn Jahre müssen im Zeichen der Reform stehen. Die Polierpaste, um die Patina loszuwerden, mag grobkörnig sein. Doch nur so lässt sich gewährleisten, dass Europa und Deutschland als wirtschaftliches Zugpferd erfolgreich bleiben. Der Reformeifer der angehenden Koalitionäre erhielte so die richtige Richtung.
 

Dr. Jürgen Gros ist Präsident des Genossenschaftsverbands Bayern (GVB). Er twittert als @JGros_GVB und ist Mitglied des Netzwerks LinkedIn.
 

Dieser Beitrag ist zuerst in der Verlagsbeilage „Finanzplatz München“  in der Börsen-Zeitung" vom 6. November 2021 erschienen.

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