Mehrwert: Die Bürgergenossenschaft Reischach setzt sich mit Projekten wie einer ambulant betreuten Wohngruppe dafür ein, dass ihre Gemeinde attraktiv bleibt.
Wer eine Genossenschaft gründet, entscheidet sich für gemeinsames Gestalten und Handeln. „Mehrere kleine Kräfte vereint bilden eine große Kraft, und was man nicht allein durchsetzen kann, dazu soll man sich mit anderen verbinden.“ Dieser Satz stammt von Hermann Schulze-Delitzsch (1808 bis 1883), neben Friedrich Wilhelm Raiffeisen (1818 bis 1888) einer der wichtigsten Gründerväter des Genossenschaftswesens. Der Zusammenschluss einzelner Kräfte kann so viel mehr bewirken.
Ganz ähnlich formulieren es mehr als 150 Jahre später Max Riedl und Frank Anetzberger von der Gründungsberatung des Genossenschaftsverbands Bayern: „Wer sich für die Rechtsform einer Genossenschaft entscheidet, wird selbst aktiv. Mit der Gründung einer Genossenschaft nehmen Mitglieder ihr Projekt selbst in die Hand und lösen gemeinsam ein Problem, anstatt nur zu jammern oder einen Misserfolg der Politik in die Schuhe zu schieben.“
Infrastruktur vor Ort erhalten
Genossenschaftsgründungen bieten sich in vielen Bereichen an – zum Beispiel, um die Nachfolge eines Betriebs zu regeln. Die Bürger vor Ort wollen mit dem Zusammenschluss zur Genossenschaft ein bestehendes Angebot erhalten und die Infrastruktur vor Ort stärken. So wie es in Malgersdorf im Kreis Rottal-Inn der Fall war, als die Traditionsbäckerei geschlossen werden sollte, da die Familie die Bäckerei nicht weiterführen konnte. Die Bürger bündelten ihre Kräfte in einer Genossenschaft und retteten mit Unterstützung der Gemeinde die Bäckerei: „Möglichst viele aus dem Dorf sollen sich beteiligen und engagieren“ – so der Gedanke des Bürgermeisters von Malgersdorf, Franz Josef Weber, Gründungsmitglied der Dorfgenossenschaft Malgersdorf. Mindestens drei Personen werden für eine Genossenschaftsgründung benötigt. Die Malgersdorfer stemmen ihr Projekt mit mittlerweile 800 Mitgliedern. Ganz im Sinne von Friedrich Wilhelm Raiffeisen: „Was dem Einzelnen nicht möglich ist, das vermögen viele.“ („Profil“ stellt die Dorfgenossenschaft Malgersdorf in Ausgabe 10/2024 ausführlich vor.)
Im Jahr 2024 bisher 34 Neugründungen
Rund 1.200 Mitglieder gehören zum Genossenschaftsverband Bayern (GVB), der seit 130 Jahren die Interessen seiner Mitglieder vertritt. Im Jahr 2024 gab es beim GVB bislang 34 Neugründungen (Stand Oktober 2024) – darunter die unverpackt GD, die Dorfheizung Oberhausen, die Nahwärme Weidenbach oder „Die Theaterbürger – Weißenburg führt sich auf“. Sie alle gehören zu den über 300 Gründungen, die von der Gründungsberatung des Genossenschaftsverbands Bayern in den vergangenen zehn Jahren begleitet wurden. Während zwischen 2009 und 2013 vor allem Energiegenossenschaften entstanden sind, gab es in den vergangenen Jahren neben vielen Wärmegenossenschaften auch Neugründungen in den unterschiedlichsten Branchen wie Gesundheit, Soziales, Handwerk oder im Dienstleistungssektor.
„Das Leben in Bayern steckt voller Genossenschaft“, fasst Stefan Müller, Präsident des Genossenschaftsverbands Bayern, zusammen. Brauer, Metzger, Schumacher oder Kaminkehrer bilden handwerkliche Genossenschaften. Ebenso kommt für Unternehmen aus den Bereichen Gastronomie, Gesundheit, IT oder Kultur eine Genossenschaftsgründung infrage. Auch Ingenieure, Anwälte oder Designer bündeln ihre Kräfte als gewerbliche Genossenschaft. Molkereigenossenschaften gibt es beim Genossenschaftsverband Bayern rund 100. Gemüse- und Weinbauern gehören zu den ländlichen Genossenschaften. Bürgerinnen und Bürger leisten ihren Beitrag zur Energiewende, indem sie in Genossenschaften mit Photovoltaik-, Windkraft- oder Biogasanlagen Strom erzeugen.
Gemeinsam Verantwortung übernehmen
Genossenschaftsmitglied zu sein, bedeutet, mit einem geringen individuellen finanziellen Risiko Verantwortung zu übernehmen – nicht nur für die jeweilige Genossenschaft, sondern auch für die Umwelt und Gesellschaft. Bei der BioRegioGenossenschaft Radis&Bona ist der Genossenschaftsanteil mit 50 Euro bewusst niedrig gehalten. „Ein Anreiz, bei uns Genossenschaftsmitglied zu werden, ist eine Frage der bewussten Ernährung und die Unterstützung der Wertschöpfungsketten in unserer Region“, betont Vorstandsmitglied Gero Wieschollek.
249 Mitglieder hat die BioRegioGenossenschaft. Mit ihrem Bio-Hofladen unterstützen sie regionale Erzeuger, setzen sich für kurze Lieferwege ein und können letztlich selbst zu fairen Preisen Produkte aus der eigenen Region erwerben. Genossenschaftsmitglieder kaufen mit vier Prozent Rabatt im Bio-Hofladen ein, wer sich zudem ehrenamtlich engagiert, bekommt sogar zehn Prozent Rabatt. Das Gemeinschaftsgefühl lebt davon, dass Mitglieder im Laden mitarbeiten und diesen auch mitgestalten.
Die Genossenschaftsbank als Finanzierungspartner
Rund 180 der 1.200 GVB-Mitglieder sind Genossenschaftsbanken, die wiederum ihre Kunden bei der Gründung einer Genossenschaft unterstützen. So zum Beispiel die VR-Bank im südlichen Franken, die Erneuerbare-Energien-Projekte als regionaler Finanzierungspartner begleitet. „Als Genossenschaftsbank fühlen wir uns als natürlicher Partner, also haben wir über Jahre Know-how aufgebaut, um Energiegenossenschaften zu begleiten und ihre Anlagen zu finanzieren“, sagt Wilfried Wiedemann, Vorstandssprecher der VR-Bank im südlichen Franken im Interview mit „Profil“.
Ob Windkraftanlagen, Wärmenetze oder Photovoltaik-Anlagen jeglicher Größe – Genossenschaften gehören zur Bank-Kundschaft. Gerd Reißlein, Firmenkundenleiter der VR-Bank im südlichen Franken, betont gegenüber „Profil", dass sie als Bank mit einer Genossenschaftsgründung die Menschen zueinanderbringen und mit ihnen gemeinsam den Betrieb eines Wärmenetzes stemmen: „Energiegenossenschaften sind die beste Möglichkeit, die Bürger an der Energiewende vor Ort zu beteiligen.“
Weiter ist es Gerd Reißlein ein Anliegen, den Menschen die Scheu zu nehmen, eine Genossenschaft zu gründen. Denn: Gründer werden nicht allein gelassen. „Es gibt im genossenschaftlichen Netzwerk viele Ansprechpartner, die ihnen auch nach Jahr und Tag mit Rat und Tat zur Seite stehen“, sagt der Firmenkundenleiter.
Jeder bringt sich mit seinen Fähigkeiten ein
Auch zehn Jahre nach ihrer Gründung profitieren sie noch davon, Mitglied im Genossenschaftsverband Bayern zu sein, betont Edith Almer, Vorstandsvorsitzende der MutMacherMenschen. „Wir kommen aus dem sozialen Bereich, für uns ist es wichtig, Mitglied im GVB zu sein, ob das um die Prüfung geht oder darum, als Unternehmen nach außen hin wahrgenommen zu werden.“
2014 war es „Zeit für einen Mut-Ausbruch“, so das Motto der gemeinnützigen Genossenschaft in Augsburg. Menschen, die psychisch erkrankt sind, werden bei den MutMacherMenschen zurück in die Arbeitswelt begleitet. Diese Vermittlung sei umso erfolgreicher, je besser Edith Almer und ihr Team die Menschen kennen, die unter einer psychischen Belastung stehen und wieder wenige Stunden arbeiten wollen. „Mir geht es darum, dass ich selbst sehe, was der jeweilige Mensch braucht, wo seine Ressourcen sind und wie fit er für einen Betrieb wäre. Ich möchte diese Informationen nicht nur über einen Dritten erfahren.“
Bei den MutMacherMenschen beteiligen sich Menschen im Genesungsprozess wieder am Arbeitsleben. Unter anderem produzieren sie in der Manufaktur der Genossenschaft Naturschutzprodukte wie Wildbienenhotels und Vogelhäuser. Sie leisten wieder etwas, können sich mit ihren jeweiligen Fähigkeiten einbringen und zeigen ihr Potenzial. „Etwa 100 Betroffene begleiten wir so übers Jahr hinweg“, sagt Almer, deren Aufgabe es währenddessen ist, den Arbeitsmarkt für ihre Interessenten zu durchforsten und sich zu überlegen, wo diese mit ihren individuellen Fähigkeiten und Zeitressourcen am besten hinpassen könnten.
Genossen auf Augenhöhe
Als vor zehn Jahren die Idee für den Sozialbetrieb aufkam, aber kein Geld für eine Firmengründung da war, machten Almer und ihre Mitstreiter sich schlau, was es mit einer Genossenschaft auf sich habe. Befeuert wurde ihre Idee damals vom Bayerischen Sozialministerium, das eine Förderung in Höhe von 30.000 Euro für die Gründung von Sozialgenossenschaften aufgelegt hatte. Dank dieser Förderung, die die Augsburger nach Einreichen ihres Businessplans erhielten, hatten sie für die ersten zwei Jahre einen kleinen Grundstock für Räumlichkeiten oder Personal.
Abgesehen von den Finanzen bietet sich die Genossenschaft als Rechtsform für ihren sozialen Betrieb auch aus folgendem Grund an, wie Almer ausführt: „Bei uns sind alle auf Augenhöhe, ob Vorstand, Aufsichtsrat, Genossen. Die Hälfte unserer Genossen ist selbst von einer psychischen Erkrankung betroffen. Hier gehört jeder dazu und profitiert von der großen Energie, die durch das Gemeinsame entsteht.“ Durch die demokratische Führung der MutMacherMenschen entstehe ein besonderer „Spirit“. Wer Teil einer Sozialgenossenschaft ist, der spüre schnell, dass zusammen viel mehr gehe, so die Vorständin weiter. „Tut’s euch zam und gestaltet aktiv eure Zukunft, sag ich immer.“
Die demokratische Unternehmensverfassung bindet alle Mitglieder gleichberechtigt ein. Somit hat jedes Mitglied eine Stimme, Entscheidungen werden gemeinsam getroffen. Bei den MutMacherMenschen leistet ein Mitglied 50 Euro als Anteil. Ein Betrag, der es jedem ermöglichen soll, sich als stimmberechtigtes Genossenschaftsmitglied einzubringen.
Gewinnbringendes Gestalten
Eine Genossenschaft ist nicht auf Gewinnmaximierung ausgelegt. Wer möglichst schnell und möglichst als Einzelperson reich werden will, der sollte davon absehen, eine Genossenschaft zu gründen, betont Frank Anetzberger vom GVB-Gründungsteam, dessen Beratungsschwerpunkt auf Waren- und Dienstleistungsgenossenschaften sowie Wärme- und Energiegenossenschaften liegt.
Dass es dennoch eindeutig um ein gewinnbringendes Ziel bei der Gründung einer Genossenschaft geht, beweist die Bürgergenossenschaft Reischach im Landkreis Altötting. Gemeinsam haben die Bürgerinnen und Bürger eine ambulant betreute Wohngemeinschaft genossenschaftlich auf den Weg gebracht. „Ein Gewinn für alle“ lautet das Motto der Bürgergenossenschaft Reischach mit 135 Genossenschaftsmitgliedern. Zwölf Wohneinheiten mit pflegerischer Versorgung für ältere Menschen im eigenen Ort, da könne man ganz klar von einem Mehrwehrt und somit einem Gewinn sprechen, unterstreicht der Vorstand Helmut Vilsmaier von der Raiffeisenbank Neumarkt-St. Veit-Reischach (zur Bürgergenossenschaft Reischach siehe auch den Beitrag in dieser Ausgabe). Denn die Bürgergenossenschaft ist es, die in einer kleinen Gemeinde wie Reischach gewinnbringende Projekte umsetzen kann.