Verantwortung: Die Politik macht es sich zu leicht, wenn sie dem Finanzsektor Vorgaben zur Nachhaltigkeit macht, die eigentlich auf die Realwirtschaft zielen.
Ein neues Merkblatt der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) erhitzt die Gemüter. Es liegt als Konsultationsfassung seit Ende September vor und kann bis zum 3. November 2019 kommentiert werden. Die deutschen Aufseher der Finanzwirtschaft kümmern sich darin um Nachhaltigkeitsrisiken bei allen Unternehmen, die sie beaufsichtigen. Ihr Ziel ist es, eine „Orientierungshilfe“ zu bieten. Diese Hilfestellung wird schon in den ersten Zeilen verknüpft mit der klar formulierten Erwartung, „dass die Unternehmen eine Auseinandersetzung mit den entsprechenden Risiken sicherstellen und dies in angemessener Weise dokumentieren“. Anknüpfungspunkt für diesen Anspruch ist das Selbstverständnis der Aufsichtsbehörde, wonach ihr Merkblatt eine sinnvolle Ergänzung der Mindestanforderungen an das Risikomanagement (MaRisk) für Kreditinstitute, Versicherungsunternehmen und Kapitalgesellschaften ist.
Doch das, was aktuell notwendig ist, sind weniger Orientierungshilfen, sondern Schutz vor nationalen Alleingängen, Schutz vor bürokratischem Mehraufwand und Schutz vor Dirigismus – auch und gerade zum Schutz der Umwelt.
Schutz vor nationalen Alleingängen
Denn die Frage, ob und was sinnvoll ist, wird aktuell an anderer Stelle mit hoher Intensität diskutiert. Alle für die europäische Rechtsetzung zuständigen Institutionen, also die Vertreter der EU-Kommission, die EU-Parlamentarier und die Regierungsvertreter im Ministerrat, haben gerade das sogenannte Trilog-Verfahren über die Taxonomie gestartet. Dabei geht es um ein Klassifizierungssystem für nachhaltiges Investment, das Standards europaweit setzt und ein „Green Painting“ beziehungsweise „Green Washing“ verhindern soll. Die EU hat im Juni 2019 den „Taxonomy Technical Report“ für eine Klassifizierung von Nachhaltigkeit herausgegeben, um zu dieser allgemeingültigen Taxonomie zu kommen. Bis dato liegen bereits 67 Aktivitäten in acht Sektoren vor, die einen Beitrag zur Reduktion des Klimawandels leisten sollen. Auch hier geht es um Leitlinien für die klimabezogene Berichterstattung der Unternehmen.
Inzwischen ist allgemein bekannt, dass Nachhaltigkeit oft unterschiedlich gesehen wird. Ansonsten werden sich gerade mittelständische Unternehmen der Realwirtschaft erst langsam dessen bewusst, welche Auswirkungen die „Sustainable Finance“-Aktivitäten auf sie mittelbar haben werden. Die deutsche Aufsicht greift nun mit ihrem Merkblatt dieser europäischen Regelung mit eigenem Gestaltungswillen vor – und das, obwohl das Trilog-Verfahren gerade gestartet ist und die deutsche Ratspräsidentschaft ab Juli 2020 in Brüssel quasi vor der Tür steht. Die Finanzplatz München Initiative hat sich zu den Plänen für ein nachhaltiges Finanzwesen klar positioniert.
Ein zentrales Anliegen aller Unternehmen der Finanz- und der Realwirtschaft in Deutschland ist es, dass es zu keinen Wettbewerbsverzerrungen aus europaweiten oder gar nur nationalen Alleingängen kommt. Das Merkblatt lässt einen solchen Alleingang befürchten. Denn während sich Bundesfinanzminister Olaf Scholz in Europa zu Recht für einen möglichst späten Start der Taxonomie einsetzt – in der Diskussion ist das Jahr 2022 – entsteht der Eindruck, dass sich die deutsche Finanzaufsicht schon sehr zeitnah neuen Anforderungen in Sachen Nachhaltigkeit stellen muss. Entsprechend hoch ist die Unsicherheit in der Finanzwirtschaft. Hinzu kommt die große Sorge, dass sich Kredite und Versicherungen für Unternehmen der Realwirtschaft wegen neuer Sustainable Finance-Anforderungen verteuern. Gerade mit Blick auf die lahmende Konjunktur würde eine vorauseilende Aufsichtspraxis möglicherweise wie ein Brandbeschleuniger wirken. Ein heißes Eisen oder „the heat is on“, wie es im internationalen Sprachgebrauch heißt.
Schutz vor Bürokratie
Positiv ist anzuerkennen, dass die BaFin in ihrem Merkblatt einen ganzheitlichen Ansatz versucht. Während sich Europa bei den drei ESG-Kriterien Umwelt, Soziales und Unternehmensführung (Environmental, Social, Governance) bisher einseitig auf die Reduktion von CO2 konzentriert, ist die BaFin mit ihrem Merkblatt deutlich breiter aufgestellt. Das ist gut. Denn damit könnten durchaus wesentliche Aspekte des Wirtschaftslebens wie Versorgungssicherheit der Wirtschaft mit Energie, Innovationsfreude und Arbeitsplatzsicherheit mit in den Blick geraten.
Allerdings wird es kompliziert, wenn unter Bezug auf die 17 UN-Nachhaltigkeitsziele alle von der BaFin beaufsichtigten Unternehmen zunächst und nicht abschließend 23 Punkte beachten sollen. Genannt werden zum Beispiel Klimaschutz, der Schutz gesunder Ökosysteme, die Gewährleistung einer ausreichenden Produktsicherheit, einschließlich des Gesundheitsschutzes, inklusive Projekte, Maßnahmen zur Verhinderung von Korruption, Ermöglichung von „Whistle Blowing“ und ganz allgemein eine Offenlegung von Informationen.
Kritisch ist zum Beispiel die daraus abgeleitete Forderung der Behörde, dass zur Erfüllung all dieser Ziele eine „ausreichende Qualifizierung“ sichergestellt werden muss und im Zweifel „Experten für Nachhaltigkeitsrisiken“ eingestellt werden sollen. Damit nicht genug: Die BaFin definiert Nachhaltigkeitsrisiken besonders weit als „alle Ereignisse oder Bedingungen aus den Bereichen Umwelt, Soziales und Unternehmensführung, deren Eintreten tatsächlich oder potenziell erhebliche negative Auswirkungen auf die Vermögens-, Finanz- und Ertragslage sowie auf die Reputation eines Unternehmens haben können; dies schließt klimabezogene Risiken in Form von physischen Risiken und Transitionsrisiken ein“. All diese Nachhaltigkeitsrisiken müssen die Unternehmen in ihr bestehendes Risikoklassifizierungssystem einbauen. Wörtliches Beispiel: ein Kredit an einen Autozulieferer, der nicht auf E-Mobilität setzt, ist aus Sicht der Aufsicht mit einem höheren Risiko anzusetzen.
Auf europäischer Ebene gelingt es schon kaum, dass der europäische Gesetzgeber über die Nachhaltigkeit im Finanzwesen diskutiert und entscheidet. Stattdessen wollen EU-Kommission und Europäische Aufsichtsbehörden auf der Ebene nachgelagerter Rechtsetzung (Level II und III) bestimmen, was nachhaltig ist und was nicht. Deshalb ist es umso wichtiger, dass neue nationale Vorschriften vermieden und schon gar nicht vorfristig eingeführt werden.
Ziel neuer Regeln muss es sein, einen Weg zu immer mehr Nachhaltigkeit zu eröffnen und allen wirtschaftlichen Akteuren Planungssicherheit zu geben. Wenn von einem System des Lernens die Rede wäre, dann wäre dies eine sinnvolle Herangehensweise. Dies gilt es zu befördern statt auf Basis statischen Wissens Regeln zu schaffen. Sie sind rasch überholt. Aktuell droht genau diese Regulierung. Es droht ein Müllberg an Daten und Papier. Es droht eine Stromverschwendung für Serverkapazitäten und digitale Kommunikation – „the heat is on“.
Schutz vor Dirigismus
Wir wissen: Die EU-Kommission treibt eine Umwandlung des Wirtschaftslebens zu einer möglichst CO2-freien, nachhaltigen Wirtschaftsordnung voran. Ihr Anknüpfungspunkt: das Finanzsystem. Ihr Vorschlag: der Aktionsplan zur Finanzierung nachhaltigen Wachstums vom März 2018. Im dritten Absatz des „Hintergrunds“ für den Aktionsplan heißt es wörtlich: „Um die aus der Finanzkrise gezogenen Lehren zu verwerten, wird das Finanzsystem derzeit reformiert und kann vor diesem Hintergrund ein Teil der Lösung für eine umweltverträglichere und nachhaltigere Wirtschaft sein. Damit privates Kapital in nachhaltigere Investitionen umgelenkt werden kann, muss das Finanzsystem umfassend umgestaltet werden.“
Diese Terminologie unterstellt, dass sich die Finanzindustrie nicht selbst erneuert und nicht auf die (vielleicht neuen) Bedürfnisse von Wirtschaft und Verbraucher ausrichtet, sondern von oben dazu getrimmt werden muss. Dafür haben Behördenvertreter einige Ideen entwickelt, die nicht alle gut sind:
- Es heißt: die Kreditvergabe für „grüne Investitionen“ soll gefördert werden. Banken könnten dafür weniger Sicherheiten zurücklegen müssen. So ein „Green Supporting“-Faktor wäre falsch. Zum Schutz der Finanzmarktstabilität kommt es allein auf das Ausfallrisiko an und nicht auf ein grünes Label. Nachhaltigkeitsziele dürfen nicht über Stabilitätsziele gesetzt werden. Ansonsten besteht die Gefahr, dass Risiko falsch eingeschätzt wird und es zu Fehlallokationen am Kapitalmarkt kommt. Der Maßstab für Eigenkapitalanforderungen muss stets das individuelle Risiko bleiben. Und dies müssen jene festlegen, zu deren Geschäftsmodell die Risikobeurteilung gehört. Versicherungen und Kreditinstitute haben die notwendige Expertise.
- Künftig sollen im Kundengespräch bei der Kapitalanlage die Nachhaltigkeitsziele des Anlegers abgefragt werden. Doch das Beratungsgespräch ist dank MiFID II bereits heute stark bürokratisch überfrachtet. Außerdem fehlt Banken und Versicherungen die (moralische) Legitimation, die Gesinnung ihrer Kunden hinsichtlich ihrer Präferenzen abzufragen. Dass jetzt noch weitergehende inhaltliche und formale Anforderungen an das Beratungsgespräch angelegt werden sollen, ist für ein offenes, auf gegenseitigem Vertrauen basierendes Gespräch nicht zielführend.
- Wenn Aufseher über Banken, Börsen und Versicherungen die Beschäftigten der Finanzbranche für grüne Zwecke instrumentalisieren wollen, vermeiden Regierungsvertreter und Abgeordnete die Auseinandersetzung mit allen Betroffenen aus allen Branchen. Das Leitmotiv „Follow the money“ mag für Ermittlungsbehörden und Beverly Hills-Cops geeignet sein. Es genügt nicht für den notwendigen gesellschaftlichen Diskurs, an dessen Ziel die Änderung des eigenen Verhaltens von Personen und Unternehmensverantwortlichen stehen muss.
Vorreiter in der nachhaltigen Kapitalanlage sind Profis aus der Finanzbranche. Sie investieren in Unternehmen, die ihr Geschäft an den ESG-Kriterien orientieren, um Risiken zu vermeiden, beispielsweise Unglücksfälle, Streiks, Skandale und nachfolgende Klagewellen. Aber nur weil Unternehmen in einer bestimmten, als „grün“ definierten Branche wirtschaften, müssen sie noch lange nicht erfolgreich sein und schon gleich gar nicht, wenn diese Sektoren staatlich gelenkt statt marktwirtschaftlich aufgestellt sind. Es sei nur an die Anleger erinnert, die ihr Geld mit ihren Investitionen in die einst hochgelobten und heute mehrheitlich insolventen deutschen Solarwerte verloren haben.
Die Börse München unterstützt Privatanleger, institutionelle Investoren und Vermögensverwalter, die nachhaltig anlegen wollen. Denn sie tun dies freiwillig, aus eigener Intention und Überzeugung unter Abwägung von Risiko und Rendite. Sie handeln im wahrsten Sinne des Wortes mit bestem Gewissen. Und das sollte auch so bleiben. Für Berater hält die Börse München frisch aus der Druckerei eine neue Publikation mit dem Titel „Nachhaltig investieren – Kapital für eine bessere Welt“ bereit, die Interessenten auf Nachfrage an info(at)boerse-muenchen.de gerne zugeschickt wird.
Interessant bleibt ein Satz aus dem Merkblatt der BaFin: „Die BaFin nimmt die aus dem Klimawandel resultierenden Risiken ernst.“ In den Fußnoten bezieht sich die Aufsicht dabei auf das Chief Risk Officers Forum 2019. Es stand unter dem Motto „the heat is on“. Behalten wir in der Debatte einen kühlen Kopf. Sustainable Finance geht uns alle an. Machen wir das Beste daraus.
Andreas Schmidt ist Vorstand der Bayerischen Börse AG und Geschäftsführer der Börse München.