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Mario Draghi spielte während der Eurokrise als Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB) eine zentrale Rolle. Inmitten der schwersten Krise, die die Währungsunion je erlebt hatte, gab er 2012 sein berühmtes Versprechen ab, alles zu tun („whatever it takes“), um den Euro zu retten. Diese Aussage beruhigte die Märkte und führte zu einem Rückgang der Spekulationen gegen gefährdete Euro-Länder wie Griechenland, Spanien und Italien. Draghis Worte und die nachfolgenden Maßnahmen, wie das Anleihenaufkaufprogramm (OMT), gelten als entscheidender Wendepunkt.

Kritiker werfen ihm jedoch vor, die EZB habe durch den massiven Ankauf von Staatsanleihen das Risiko der gemeinsamen Haftung in der Eurozone erhöht und die Balance zwischen fiskalischer und monetärer Verantwortung verzerrt. Einige argumentieren, dass Draghis Kurs den Reformdruck auf hochverschuldete Länder abgeschwächt und den Weg für eine „Rettung um jeden Preis“ geebnet habe.

Etwa zwölf Jahre später bleibt Draghi seiner damaligen Linie treu. In seinem Report an die EU-Kommission schlägt er einige unkonventionelle Maßnahmen vor, von denen er sich eine Verbesserung der europäischen Wettbewerbsfähigkeit erwartet. Die Risiken seiner Ideen müssen jedoch genau beleuchtet werden, da eine Handlungslogik, die in einer akuten Krise durchaus richtig sein mag, für die langfristige angelegte Transformation der europäischen Wettbewerbsfähigkeit kein tragbarer Weg ist.

Ersparnisse sind kein Wagniskapital

Für Europas Wettbewerbsfähigkeit ist Draghi bereit, Risiken einzugehen und gibt sich nicht mit kleinen Maßnahmen zufrieden. Das Medienecho vor wenigen Wochen war deshalb entsprechend positiv, von einem „Weckruf“ war die Rede. Stolze 800 Milliarden Euro pro Jahr mehr müsse Europa investieren, um den Anschluss an die USA und China wiederherzustellen, so Draghi. Gelingen kann dies nur, wenn sowohl private als auch öffentliche Investitionen deutlich steigen.

Für den privaten Teil möchte Draghi die „ungenutzten“ Billionen, die bei Europas Sparern auf den Bankkonten liegen, für die Transformation der Wirtschaft in Bewegung bringen. Die Schuld für den bisher langsamen Fortschritt sieht er unter anderem bei den Banken. Die Kreditfinanzierung sei zu risikoavers, um die notwendigen Investitionen zu erreichen. Den europäischen Bürger mit seinen hart erarbeiteten Ersparnissen zum Wagniskapitalgeber zu machen, ist allerdings ein Spiel mit dem Feuer. Als ehemaliger Zentralbanker sollte Draghi das verstehen und besser unterlassen.

Draghis Denkfehler in der Finanzierungsfrage

Draghi stellt auf den Seiten 286 und 287 seiner „in-depth analysis“ richtigerweise fest, dass Banken unter einer hohen Last an aufsichtsrechtlichen Vorschriften stehen. Der stark schwankende Cashflow von innovativen Start-ups sowie deren geringer Bestand an Sicherheiten berge ein hohes Insolvenzrisiko, was Kreditfinanzierung durch Banken häufig ausschließe. Deshalb solle der europäische Kapitalmarkt harmonisiert werden, damit hier die notwendigen privaten Investitionen getätigt werden können.

Draghis Argumentation ist dabei jedoch nicht schlüssig. Wenn Banken Innovationen nicht finanzieren können, weil damit hohe Risiken verbunden sind, dann eignet sich deren Finanzierung über den Kapitalmarkt ebenso wenig. Denn die Bürger Europas zählen darauf, dass ihre Ersparnisse auch noch in 15 oder 20 Jahren für ihre Altersvorsorge da sind und nicht als Venture Capital in Start-ups verbrannt werden. Banken sind stark reguliert, weil sie eine hohe Verantwortung haben, nämlich die Einlagen ihrer Kunden zu sichern. An dieser Logik ändert sich nichts, nur weil man die Gelder von den Banken abzieht und direkt auf den Kapitalmarkt bringt. Die Bürger Europas haben einen Anspruch darauf, dass ihr Vermögen sicher investiert wird.

Die Bankenregulierung in Europa ist zu strikt

Möglicherweise ist das Bankgeschäft gar nicht so risikoreich, wie der europäische Gesetzgeber und seine Behörden es in den vergangenen 15 Jahren durch ihre immer strengere Regulierung haben aussehen lassen. Anstatt das Kapital von den überregulierten Banken abzuziehen, wäre es vielleicht an der Zeit, die Daumenschrauben im Bankbereich wieder etwas zu lösen. In seiner Tiefenanalyse der europäischen Finanzarchitektur spricht Draghi das auch immer wieder an. So stellt er fest, dass europäische Banken wesentlich strenger reguliert werden als die US-amerikanischen Gegenstücke. Deshalb wäre es viel wichtiger, dass Brüssel die weitere Umsetzung des Basel-Regelwerks noch einmal auf den Prüfstand stellt.

Draghi bemängelt neben der zu geringen Partizipation der Privatanleger am Kapitalmarkt den im Vergleich zu den USA ebenfalls wesentlich geringer ausfallenden Verbriefungsmarkt. Anstatt diesen zu liberalisieren, erschafft die EU – beispielsweise im Rahmen der Kleinanlegerstrategie – zusätzliche Hürden, die den Anlegern den Zugang zum Kapitalmarkt nur weiter erschweren (siehe dazu auch den „Profil“-Beitrag „Die Tücken der EU-Kleinanlegerstrategie stecken im Detail“ in Ausgabe 7/2023).

Bürokratie am Beispiel PRIIPs-Verordnung

Warum es in Europa mehr Bankguthaben und weniger Wertpapiere gibt, kann man anhand eines regulatorischen Beispiels gut erläutern. Die PRIIPs-Verordnung verlangt, dass für „komplexe Finanzprodukte“ von den Emittenten ein Basisinformationsblatt zu erstellen ist. Viele Anleihen stehen Privatanlegern deshalb nicht zur Verfügung, da sich die Emittenten diesen bürokratischen Aufwand sparen wollen. Anleihen von soliden Unternehmen mit hoher Bonität wären aber gerade für Kleinanleger eine risikoarme Alternative zum volatilen Aktienmarkt, die dennoch gute Renditen erzielen. So bleibt aber nur Tages- oder Festgeld. Das ist nicht die Schuld der Banken.

Erst Bürokratieabbau, dann die Investitionen

Die Überregulierung im Bankbereich steht exemplarisch für viele Branchen in Europa. Bevor also Bürger und Mitgliedsstaaten der EU ihr Portemonnaie öffnen, muss Europa zuvorderst innovations- und wachstumsfreundliche Rahmenbedingungen schaffen. Der Hemmschuh für die europäische Wirtschaft kommt nämlich aus Brüssel selbst. Findet in der EU-Kommission kein Paradigmenwechsel in Sachen Bürokratie statt, würden die von Draghi geforderten Milliarden schnell verpuffen.

Immer lauter werden die Stimmen von Experten, die fordern, ganze Kataloge von EU-Regeln zu streichen. So auch unlängst ifo-Präsident Clemens Fuest, der auf dem Verbandstag des GVB die Abschaffung der EU-Taxonomie und des damit verbundenen Berichtswesens forderte. Die Taxonomie ist ein gutes Beispiel, wie Brüssel Regulatorik produziert und produktive Kapazitäten bindet, ohne dass dadurch das Ziel – die grüne Transformation – auch nur einen Schritt weitergebracht wird.

Bevor man also die Milliarden der Sparerinnen und Sparer heranzieht, muss Brüssel erst beweisen, dass es mit diesem Geld verantwortungsvoll umgehen kann.
 

Stefan Müller ist Präsident des Genossenschaftsverbands Bayern.
Zu seinem Profil auf LinkedIn.

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