Gemeinschaftswerk: Genossenschaften fördern ihre Mitglieder – und leisten dabei noch viel mehr. Woher nehmen sie ihre Gestaltungskraft? „Profil“ hat nachgefragt.
Mit einer ganztägigen Jubiläumsveranstaltung hat das Forschungsinstitut für Genossenschaftswesen an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg sein 75-jähriges Bestehen gefeiert. GVB-Verbandspräsident Gerhard Walther (Titelfoto, re.) und GVB-Präsident Stefan Müller (li.) überreichten anlässlich des Jubiläums eine Stele sowie eine Ehrenurkunde an Matthias Wrede (2. v. li.) und Richard Reichel (2. v. re.) vom Institut. Sie betonten: „Zum 75-jährigen Bestehen herzliche Glückwünsche, Dank und Anerkennung für die geleistete Arbeit und alles Gute für eine weitere gedeihliche Entwicklung.“
Während des Tages gab es drei Programmpunkte: Am Vormittag die Tagung „Der wissenschaftliche Nachwuchs stellt sich vor“, am Nachmittag das wissenschaftliche Symposium „Genossenschaften: Demografischer Wandel als Herausforderung und Chance“ sowie am Abend einen Sektempfang und ein festliches Abendessen mit Tischreden.
Kulturgenossenschaften, Corporate Governance, Pflichtprüfung
Auf der Jubiläumsveranstaltung präsentierten sieben junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ihre Forschungen. Ein Überblick:
- Julia Beideck (Köln): „Morphologie der Kulturgenossenschaften“,
- Frederick Schulz (Geisenheim): „Genossenschaften und Entrepreneurship“ im Kontext der Winzergenossenschaften,
- Lars Poppe (Konstanz): „Corporate Governance im genossenschaftlichen Verbund“,
- Sebastian Reif (Konstanz): „Genossenschaftliche Pflichtprüfung“,
- Franziska Mittag (Hohenheim): „Marktorientierte Bewertung von Biodiversitätsleistungen in Baden-Württemberg – Effizienzgewinne durch kooperative Lösungen?“,
- Caroline Birkner (München): „Towards just and multicultural urban landscapes in the context of the European housing and refugee crises“,
- Constantin Kurzidem (Nürnberg): „Die Vereinbarkeit des Regionalprinzips der Genossenschaftsbanken mit dem Kartellrecht“.
Rentensystem unter Druck
Keynote-Speaker beim wissenschaftlichen Symposium am Nachmittag war Martin Werding, Professor für Sozialpolitik und öffentliche Finanzen an der Ruhr-Universität Bochum. Er gehört seit 2022 dem Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung an, umgangssprachlich „Wirtschaftsweise“ genannt. Er sprach zum Thema: „Das Silberne Zeitalter: Stagnation oder Transformation?“
In seinem Vortrag ging Werding auf die aktuellen Diskussionen um die Rentenreformen ein. Der Alterungsprozess der Bevölkerung, der das Rentensystem in den nächsten Jahren und Jahrzehnten immer stärker unter Druck setzt, habe zwei Hauptursachen, erklärte Werding. Dies seien erstens die gesunkenen Geburtenzahlen und zweitens eine ständig steigende Lebenserwartung.
Für beide Entwicklungen gebe es ursachengerechte Reformen. Eine weitere Heraufsetzung der Regelaltersgrenze sei die Antwort auf die steigende Lebenserwartung. Und durch den Ausbau ergänzender kapitalgedeckter Vorsorge könnten die Effekte des Geburtenrückgangs für die Umlage-Finanzierung der gesetzlichen Renten ausgeglichen werden. „Beides ist äußerst unpopulär, aber im Grunde sind das rentenpolitische No-brainer“, betonte Werding. „Vor allem reicht beides noch gar nicht aus, um die heiße Phase der demografischen Alterung zu bewältigen, die jetzt gerade mit den Renteneintritten der Baby-Boomer beginnt und die nächsten zehn bis 15 Jahre andauert“, führte der Professor weiter aus. Es seien zusätzliche Reformen nötig, zum Beispiel durch eine Verstärkung des Nachhaltigkeitsfaktors oder eine reine Anpassung aller Bestandsrenten an die Inflation.
Gesundheits- und Pflegesysteme müssen reformiert werden
Auch auf das Gesundheitssystem ging Werding ein. Dort gebe es aktuell massive Effizienzverluste. Dieser Umstand biete jedoch Chancen. „Im Grunde ist das eine gute Nachricht: Wenn es gelingt, diese Verluste zu vermeiden, können wir den absehbaren Anstieg der Gesundheitsausgaben dämpfen, ohne Abstriche bei der Breite und Qualität der Versorgung zu machen“, betonte er.
Eine weitere große Herausforderung sei es, dass die Pflege bezahlbar bleibe. In den vergangenen Jahren seien die Beitragssätze von 2 Prozent auf 3,4 Prozent gestiegen, betonte Werding. Aktuell werde über eine weitere Senkung der Eigenanteile bei der stationären Pflege sowie über eine Vollversicherung diskutiert. „Die Realität der Pflege ist von solchen politischen Plänen aber weit entfernt. Wenn alle Pflegebedürftigen ihre gesetzlichen Ansprüche wahrnehmen könnten, wäre der Beitragssatz der Pflegeversicherung heute vermutlich noch 2 Prozentpunkte höher,“ sagte Werding.
Genossenschaften als Lösungsansatz
Genossenschaften können laut dem Wirtschaftsweisen dazu beitragen, die aktuellen Herausforderungen in den skizzierten Themenfeldern erfolgreich zu bewältigen. Beispielsweise könne die genossenschaftliche FinanzGruppe um die Volksbanken und Raiffeisenbanken ergänzende Vorsorgemodelle entwickeln. Dies sei ein potenziell wachsendes Geschäftsfeld. Auch im Gesundheitswesen könnten Genossenschaften verstärkt zum Einsatz kommen. Möglich sei dies etwa bei Gemeinschaftspraxen oder bei medizinischen Versorgungszentren. Denkbar seien auch neue Modelle zur Sicherstellung der ärztlichen Versorgung auf dem Land. Auch Pflegemodelle als Form der subsidiären Absicherung von Pflegebedürftigen und Pflegerinnen und Pflegern könnten in der Rechtsform eG organisiert werden. Weitere Betätigungsfelder von Genossenschaften könnten in den Bereichen Wohnen und Einzelhandel entstehen, betonte Werding.
Strategisches Personalmanagement, genossenschaftliche Wohnmodelle, Auswirkungen der Digitalisierung
Neben dem Wirtschaftsweisen Martin Werding haben weitere Expertinnen und Experten zum Thema „Genossenschaften: Demografischer Wandel als Herausforderung und Chance“ gesprochen. Ein Überblick:
- Stephan Weingarz (Abteilungsleiter Personalmanagement beim Bundesverband der Deutscher Volksbanken und Raiffeisenbanken): „Personal in Genossenschaftsbanken – zwischen Effizienzdruck und strategischem Personalmanagement“,
- Richard Lang (Direktor Kompetenzzentrum Management von Genossenschaften Freie Universität Bozen): „Nachbarschaften im Wandel: Genossenschaftliche Modelle für zukunftsfähiges Wohnen“,
- Markus Algner (Mitglied der Geschäftsleitung Datev eG): „Auswirkungen der Digitalisierung auf den genossenschaftlichen Förderauftrag“,
- Anu Puusa (Professorin in Management an der University of Eastern Finland): „Seizing Potential: Unleashing Cooperative Power in the Next Century“.
In seiner Tischrede bei der festlichen Abendveranstaltung dankte Stefan Müller dem Forschungsinstitut für die erfolgreiche Arbeit: „Interdisziplinär, praxisbezogen, als Vordenker für die Genossenschaften – das macht das Institut zum wissenschaftlichen Familienzweig im vielfältigen Stammbaum der bayerischen genossenschaftlichen Familie. Es ist der notwendige Transmissionsriemen zwischen Praxis und Forschung, der seit 75 Jahren das Genossenschaftswesen voranbringt.“ Für die Zukunft wünschte er dem Institut weiterhin viel Erfolg.
Regina Wenninger ist Vorstandsbeauftragte Mitgliederbetreuung.