Gemeinschaftswerk: Genossenschaften fördern ihre Mitglieder – und leisten dabei noch viel mehr. Woher nehmen sie ihre Gestaltungskraft? „Profil“ hat nachgefragt.
1. Leben wie Gott in Franken
Ein lauer Sommerabend in Würzburg, auf der Alten Mainbrücke mit einem Glas Wein in der Hand stehen, oben thront die Festung, am Hang reifen die Reben: Für viele Menschen ist das ein magischer Moment. Dass es eine solche Weinvielfalt in Franken gibt, hat viel mit den Winzergenossenschaften zu tun. Fünf sind es an der Zahl: Divino Nordheim Thüngersheim eG, Winzergemeinschaft Franken eG (GWF), Winzergenossenschaft Hörstein, Winzergenossenschaft Escherndorf und Winzer Sommerach eG. Wer den Abend auf der Alten Mainbrücke in Würzburg genossen hat, kann sich tags darauf aufmachen, die Vinotheken der Genossenschaften und die Weinberge zu erkunden.
Mehr erfahren: In der Ausgabe 10/2022 von „Profil“ gibt es einen Themenschwerpunkt zu den fränkischen Winzergenossenschaften mit zahlreichen Ausflugstipps.
2. Durst auf daheim
15 Brauereigenossenschaften gibt es im Freistaat. Sie alle eint das Ziel, ein handwerklich hervorragendes Bier zu brauen. Zudem schaffen sie regionale Identität und tragen zur Geselligkeit bei. „Wir wollen nicht in Konkurrenz zu den großen Brauereien treten oder ein Szenegetränk herstellen. Wir wollen die Gemeinschaft im Ort stärken und Menschen aller Altersklassen und sozialer Herkunft einbinden“, betont etwa Florian Schärpf von der 2016 gegründeten Brauereigenossenschaft Oberhaching. Kultstatus in der Gruppe der Brauereigenossenschaft hat die Klosterbrauerei Reutberg eG. Das Josefifest zieht jährlich tausende Gäste an. Highlight der Feier ist die wohl unterhaltsamste Generalversammlung der Genossenschaftswelt. In diesem Sinne: Wohl bekomm‘s!
Mehr erfahren: Die „Profil“-Redaktion berichtete in der Ausgabe 06/2018 im Top-Thema über die bayerischen Brauereigenossenschaften. Einen Beitrag über die Generalversammlung der Klosterbrauerei Reutberg gibt es in der Ausgabe 04/2019.
3. Kulturlandschaft erhalten
Die Kühe grasen friedlich auf den Almen, die Bäume auf den Streuobstwiesen stehen in voller Blüte: Keine Frage, die vielfältigen Kulturlandschaften im Freistaat haben einen hohen Freizeit- und Erholungswert. Dass gefällt nicht nur den Einheimischen, sondern auch den Touristen – Bayern ist Reiseziel Nummer eins in Deutschland. Einen signifikanten Anteil am Landschaftsbild haben die bayerischen Genossenschaften. Dank ihnen können kleinbäuerliche Betriebe ihre Erzeugnisse gemeinsam verarbeiten sowie vermarkten und so im harten Wettbewerb bestehen. Die Bauern bewirtschaften häufig Flächen, die für industrielle Großbetriebe nicht lukrativ sind. So bewahren Genossenschaften und ihre Mitglieder die Kulturlandschaften, die die Menschen an Bayern so schätzen.
Mehr erfahren: Den Einsatz der bayerischen Genossenschaften für den Erhalt der Kulturlandschaft hat „Profil“ exemplarisch anhand der Winzerkeller Sommerach eG, der Forst- und Weidegenossenschaft Krün, der Molkerei Berchtesgadener Land, der Manufaktur Gelbe Bürg eG und der ORO Obstverwertung eG aufgezeigt.
4. Ein einmaliges Naturerlebnis
Die Breitachklamm bei Oberstdorf ist eines der touristischen Highlights im Allgäu. Auf einer Länge von 2,5 Kilometer rauscht die Breitach durch die Klamm und bahnt sich ihren Weg durch die Felsen. Dass die Besucher sicher durch die Schlucht wandern können, ist der Genossenschaft Breitachklammverein eG zu verdanken. Anfang des 20. Jahrhunderts schlossen sich 72 Menschen zusammen, um die Klamm zugänglich zu machen. Auch heute kümmert sich die Genossenschaft um sichere Wege, betreibt ein Informationszentrum und bietet Führungen für Gruppen und Schulklassen an. Ein Highlight im Winter ist die Fackelwanderung, bei der die Eisformationen im Licht des Feuers glänzen.
Mehr erfahren: „Profil“ hat über die Fackelwanderung in der Breitachklamm in der Ausgabe 3/2019 berichtet.
5. Film ab und Bühne frei
Konkurrenz durch Netflix & Co., veränderte Freizeitgewohnheiten und kürzere exklusive Laufzeiten: Die Kinobranche durchläuft seit Jahren einen Strukturwandel. In vielen bayerischen Kommunen haben die Lichtspielhäuser längst dichtgemacht. In Kitzingen stemmen sich die Menschen gegen diesen Trend. Sie haben eine Genossenschaft gegründet, um dem alten „Roxy“-Kino ein zweites Leben zu schenken. Nach über zehn Jahren Pause laufen seit 2019 wieder Filme über die Leinwand. Das „Roxy“ ist eins von zwei genossenschaftlichen Kinos in Bayern. Das andere ist das „Central im Bürgerbräu“ in Würzburg. Dort werden vor allem Arthouse-Filme, aber auch aktuelle Blockbuster gezeigt. Dank Genossenschaften heißt es aber nicht nur „Film ab“, sondern auch „Bühne frei“: In Ansbach und Weißenburg bereichern zwei Theater das kulturelle Leben.
Mehr erfahren: „Profil“ hat in der Ausgabe 1/2024 über das „Central im Bürgerbräu“ in Würzburg und in der Ausgabe 2/2020 über das „Roxy“ in Kitzingen berichtet.
6. Wohnortnahe Versorgung mit Lebensmitteln
Vor allem in ländlichen Gebieten ist der Weg zum nächsten Supermarkt oft weit. Wegen der langen Fahrstrecken nimmt der Einkauf oft mehrere Stunden in Anspruch. Vor noch größeren Herausforderungen stehen Menschen ohne eigenes Fahrzeug oder mit eingeschränkter Mobilität. Das muss nicht sein! In vielen Kommunen haben sich die Bürger zusammengetan, um eine wohnortnahe Versorgung mit Lebensmitteln sicherzustellen. Rund 50 solcher genossenschaftlichen Supermärkte gibt es im Freistaat. Neben den Dorfläden finden sich zwei weitere Typen: Erstens die Weltläden, die fair gehandelte Produkte aus Entwicklungsländern verkaufen. Zweitens die Unverpackt-Läden, die Verpackungsmaterialien wie Einwegplastik reduzieren.
Mehr erfahren: In der aktuellen Ausgabe geht es um die LAVLI Coop Miesbach eG, die in Miesbach einen genossenschaftlichen Supermarkt betreibt. In der Ausgabe 08/2021 berichtete die Redaktion über einen gemeinschaftlich getragenen Supermarkt in Bad Kohlgrub. Unverpackt-Läden standen in den Ausgaben 5/2021 sowie 8/2019 im Mittelpunkt. Und: Das von einer Genossenschaft betriebene Zukunftshaus in Würzburg will es den Menschen so einfach wie möglich machen, nachhaltig zu leben. „Profil“ berichtete in der Ausgabe 3/2024.
7. Back-Tradition erhalten
Brezn, Hutkrapfen, Eierweck: Die meisten Menschen zwischen Berchtesgaden und Aschaffenburg legen großen Wert auf frische, regionale und qualitativ hochwertige Backwaren. Umso größer war der Schock in Lohr-Wombach (Landkreis Main-Spessart), als der Inhaber des traditionellen und einzigen Bäckers vor Ort seinen Betrieb aus gesundheitlichen Gründen zusperren musste. Damit wollten sich die Menschen vor Ort nicht abfinden – und gründeten eine Genossenschaft. Der „Wombicher Beck“, Ende Juni 2022 eröffnet, ist die bayernweit erste Bäckerei seither in Bürgerhand. Und so können sich die Menschen vor Ort wieder mit Broten, Semmeln und Kuchen eindecken. Das Beispiel hat Schule gemacht: In Malgersdorf (Landkreis Rottal-Inn) hat eine Genossenschaft ebenfalls einen traditionellen Bäckereibetrieb übernommen.
Mehr erfahren: Über Bayerns erste Genossenschafts-Bäckerei berichtete „Profil“ in der Ausgabe 9/2022.
8. Ein Dorf wird Wirt
Das Wirtshaus ist in vielen Orten der Mittelpunkt des Dorflebens. Für nicht wenige Menschen bedeutet es die zweite Heimat. Doch immer wieder müssen in Bayern die Gasthäuser schließen, etwa, weil sich kein Nachfolger findet. Wirtshaussterben ist das gefürchtete Schlagwort. Auch die Dorfgemeinschaften in Pischelsdorf (Landkreis Pfaffenhofen an der Ilm), Giggenhausen (Landkreis Freising) oder Altenau (Landkreis Garmisch-Partenkirchen) ereilte dieses Schicksal. Die Einwohner nahmen das jedoch nicht hin, sondern packten mit an. Ihr Plan: Das Dorf wird Wirt. Dazu gründeten sie jeweils eine Genossenschaft. Beispiel Pischelsdorf: Dort investierten die Menschen nicht nur Geld, sondern brachten zusammen rund 3.300 Arbeitsstunden ein. Mit Erfolg: Seit Juli 2023 hat der Ort mit rund 500 Einwohnern wieder eine Gastwirtschaft. Wirtshaussterben? In Pischelsdorf, Giggenhausen und Altenau haben es die Menschen erfolgreich verhindert.
Mehr erfahren: „Profil“ hat über die Dorfwirtschaften in Pischelsdorf, Giggenhausen und Altenau berichtet (mit Weihnachtsmenü zum Nachkochen).
9. Eine Zukunft für die lokale Buchhandlung
Anfang 2022 stand die Kemptener Buchhandlung „Lesezeichen“ vor dem Aus. Die damalige Besitzerin wollte aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr weitermachen. Gleichzeitig war ihr wichtig, dass die Buchhandlung erhalten bleibt. Immerhin blickt das zentral am Rathausplatz gelegene „Lesezeichen“ auf eine 40-jährige Historie zurück und hat eine treue Kundschaft. Doch für die Nachfolge fand sich niemand. Die Lösung: Eine Genossenschaft. In kürzester Zeit steuerten 35 Menschen, vor allem Stammkunden, mehr als 60.000 Euro bei. Das Geld reichte für den Neustart, nun in der Rechtsform eG. Das um neue Kräfte ergänzte Team des „Lesezeichens“ kann weiterhin das tun, was es am besten kann: Die Kundinnen und Kunden persönlich und individuell beraten. Und so ist die erste genossenschaftliche Buchhandlung im Freistaat ein gutes Beispiel dafür, dass sich die Rechtsform auch für die Unternehmensnachfolge eignet.
Mehr erfahren: In der Ausgabe 2/2023 gibt es eine ausführliche Reportage über die Buchhandlung „Lesezeichen“.
10. Würdevoll in die letzte Lebenszeit
Viele schwerstkranke Menschen möchten die verbleibende Lebenszeit in der gewohnten Atmosphäre zu Hause oder im Pflegeheim verbringen. Voraussetzung dafür ist, dass eine adäquate ambulante Betreuung gewährleistet ist. Dazu brauchen die Menschen eine spezialisierte ambulante Palliativversorgung (SAPV). Das bedeutet: Die Beschwerden werden gelindert, die Ursachen der Krankheit aber nicht mehr bekämpft. Nicht überall gibt es solche Angebote. Die Rechtsform Genossenschaft kann dazu beitragen, eine solche Versorgung aufzubauen. Zum Beispiel in Dachau: Dort kümmert sich das Team der SAPV Dachau eG jedes Jahr um rund 180 todkranke Patienten. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind speziell für den Umgang mit den schwerstkranken Menschen geschult. Und so gibt es dank der Genossenschaft ein umfassendes und rund um die Uhr verfügbares Versorgungsnetzwerk für die Patienten. Damit diese bis zu ihrem Tod würdevoll in ihrer vertrauten Umgebung leben können.
Mehr erfahren: Über die Tätigkeit der SAPV Dachau eG berichtete „Profil“ in der Ausgabe 2/2019.