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Herr Professor Heydenreuter, mit Hermann Schulze-Delitzsch und Friedrich Wilhelm Raiffeisen beginnt Mitte des 19. Jahrhunderts das Zeitalter der modernen Genossenschaften. Ist es Zufall, dass diese beiden Reformer ihre Ideen gerade in einer Krisenzeit entwickelt haben?

Reinhard Heydenreuter: Um diese Frage zu beantworten, müssen wir die Lebenswirklichkeit der damaligen Zeit betrachten, in der die beiden Stammväter der Genossenschaftsbewegung gelebt und gewirkt haben. Beide Reformer sind stark beeinflusst worden durch die Hungersnot von 1847/48. Diese hatte genauso wie die Hungersnot von 1816/17 viele Tote gefordert. Eine funktionierende Armenversorgung scheiterte jedoch am Desinteresse der Herrschenden. Monarchen wie Ludwig I. in Bayern waren hauptsächlich mit sich selbst und ihrem Nachruhm beschäftigt. Während die Sozialausgaben heute zu den größten Posten in den öffentlichen Haushalten gehören, finden wir in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den Etats dafür keinen Pfennig. Die Menschen empfanden deshalb königliche Prachtbauten wie etwa die Ludwigstraße in München, die Walhalla bei Regensburg oder später das heute weltberühmte Schloss Neuschwanstein nicht als Bereicherung, sondern angesichts fehlender Schulen, heruntergekommener Straßen, fehlender Getreidespeicher und ausgeplünderter Wohltätigkeitsstiftungen als Provokation.

„Die Krisenjahre 1847 und 1848 sowie ihre Folgen hatten großen Einfluss auf das Wirken der Genossenschaftspioniere.“

Die Hungersnot von 1847 brachte dann das Fass zum Überlaufen?

Heydenreuter: Genau. 1848 kam es zur bürgerlichen Revolution. In der unmittelbaren Zeit danach schienen tatsächlich die liberal gesinnten Revolutionäre, die teilweise auf den Barrikaden gegen blutige Unterdrückung gekämpft hatten, den Ton anzugeben. Das Frankfurter Parlament war die erste gesamtdeutsche demokratische Veranstaltung. Doch schon kurz darauf mussten die Revolutionäre schmerzlich erfahren, wie der Geist der Freiheit durch das Militär und reaktionäre Kräfte blutig niedergeschlagen wurden. Kurzum: Die Krisenjahre 1847 und 1848 sowie ihre Folgen hatten großen Einfluss auf das Wirken der Genossenschaftspioniere Raiffeisen und Schulze-Delitzsch.

Wie kam es dazu, dass sich die Genossenschaftsbewegung trotzdem ausbreiten konnte?

Heydenreuter: Die Liberalen haben es geschafft, die Vereinsfreiheit in die nachrevolutionäre Zeit hinüberzuretten. Dies gestanden ihnen die verängstigten, aber rachsüchtigen Monarchen zögernd zu. Die Vereinsfreiheit schien ihnen ungefährlich, solange die Vereine nichts mit Politik zu tun hatten. Die Liberalen, ihrem großen Traum der bürgerlichen Freiheiten beraubt, ergriffen die Möglichkeit, diesen Traum im Kleinen umzusetzen. Sie entsannen sich der altdeutschen Tugend des gleichberechtigten Nebeneinanders, um gemeinsam ein Ziel zu erreichen: der Genossenschaften. Lange Zeit hatte die Genossenschaftsidee ein Schattendasein geführt und wurde lediglich von einigen Rechtshistorikern an den Universitäten doziert. Nun erinnerte man sich ihrer und die Genossenschaftsbewegung blühte wieder auf.

„Selbsthilfe, Selbstverwaltung und Selbstverantwortung: Das war für viele Menschen die passende Antwort auf die widrigen Umstände.“

Warum haben sich gerade die Ideen von Schulze-Delitzsch und Raiffeisen durchgesetzt?

Heydenreuter: Die Obrigkeit ließ während und nach den Hungersnöten von 1816/17 und 1847 alle Forderungen des Volks trotz großzügiger Versprechungen ins Leere laufen. Der Staat war nicht in der Lage, eine vernünftige Sozialpolitik zu betreiben. Dazu kam, dass in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Wirtschaft liberalisiert wurde. Die Zunftverfassung wurde aufgehoben, die Gewerbefreiheit eingeführt und die Bauern befreit. Als Folge setzte eine nicht geregelte Ellenbogenmentalität ein. „Bereichert Euch!“, hieß die Devise für diejenigen, die ohnehin schon reich waren. Die Zeit der Gierigen und Skrupellosen setzte ein. Der einfache Mann, die einfache Frau, waren nun nicht mehr Opfer staatlicher Polizeiwillkür, willfähriger und arroganter Beamter sowie eines staatlichen Regulierungswahns, sondern Opfer von Getreide- und Grundstücksspekulanten sowie skrupellosen Fabrikherren und Großgrundbesitzern. Die Reichen wurden reicher, die Armen immer ärmer. An dieser Stelle boten die Ideen der Genossenschaftspioniere einen Ausweg. Selbsthilfe, Selbstverwaltung und Selbstverantwortung: Das war für viele Menschen die passende Antwort auf die widrigen Umstände.

Auch in Bayern kam die Genossenschaftsbewegung ins Rollen. Was waren die Ursachen?

Heydenreuter: 1886 starb Märchenkönig Ludwig II. Die nun folgende Regentschaft seines Onkels Luitpold wird heute oft verklärt als gemütliche oder sogar romantische Prinzregentenzeit. Für einen Großteil der Bevölkerung waren die Jahre aber sehr hart, was insbesondere aus einer durch falsche Politik verursachten Landwirtschaftskrise resultierte. Die Regierenden, vor allem auf Reichsebene, hatten sich zum Werkzeug der Großindustrie und des Großhandels gemacht, die Bedürfnisse der einheimischen Landwirtschaft waren ihnen völlig gleichgültig. Die reichen Industriellen korrumpierten die Politik und förderten billige und globale Einkäufe. So gab es Zollerleichterungen, um massenhaft Getreide zu importieren, beispielsweise aus Russland. Dazu kam eine klimatische Veränderung: In Indonesien war 1883 der Vulkan Krakatau ausgebrochen. In der Folge kam es in Europa in den 1880er- und 1890er-Jahren zu Kälteperioden und Ernteausfällen. Auch Bayern wurde von einer Landwirtschaftskrise erfasst. So radikalisierten sich die verzweifelten Bauern. Liberale Kräfte, beispielsweise der sogenannte Bauerndoktor Georg Heim, sahen in der Gründung von Genossenschaften den einzigen Weg aus der Misere. So schossen in Bayern in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts Genossenschaften wie Pilze aus dem Boden. Das federte die Krisen erheblich ab. Übrigens fällt in diese Zeit auch die Gründung des „Bayerischen Landesverbands landwirtschaftlicher Darlehensvereine“, der Vorläuferorganisation des Genossenschaftsverbands Bayern.

„In Krisenzeiten sind Genossenschaften für die Menschen vor Ort da und stellen deren Versorgung sicher.“

Seitdem haben Genossenschaften mehrere Finanz- und Wirtschaftskrisen überstanden. Wie haben sie das geschafft?

Heydenreuter: In der Tat sind Genossenschaften krisenerprobt und gelten besonders in widrigen Zeiten als vertrauenswürdig. Warum? Bei Genossenschaften sind die handelnden Akteure vor Ort. Das schafft Verständnis und unterscheidet sie von anderen Institutionen, die etwa ihren Sitz in der Karibik haben, um Steuern zu sparen. Gerade die regionale Verbundenheit von Genossenschaften ist ein eminenter Pluspunkt. In Krisenzeiten sind sie für die Menschen vor Ort da und stellen deren Versorgung sicher – sei es mit Krediten, Lebensmitteln oder anderen Produkten. Das zeigt: Es ist sinnvoll, auf langfristige Beziehungen zu setzen, statt in der Hoffnung auf „Schnäppchen“ Wettbewerber gegeneinander auszuspielen.
 

Inwieweit haben Genossenschaften ihre Stabilität auch in der letzten großen Krise, der Weltfinanzkrise ab 2007, unter Beweis gestellt?

Heydenreuter: Finanzkrisen und Bankenzusammenbrüche hat es in der Geschichte häufig gegeben. Mit der Genossenschaftsidee hat man darauf eine praktikable Antwort gefunden, was sich insbesondere in der Weltfinanzkrise gezeigt hat. Dort konnten die Volksbanken und Raiffeisenbanken im Unterschied zu anderen Bankengruppen ihre Kreditvergabe ausweiten sowie ihren Kundenstamm und ihre Einlagen vergrößern. Ganz ohne Staatshilfe standen sie in der Krisenzeit an der Seite des bayerischen Mittelstands und haben für Stabilität gesorgt. Auch hier erwies sich die regionale Verwurzelung der Kreditgenossenschaften als Stärke. Diese haben eben nicht versucht, aus Profitgier das große Rad zu drehen, sondern sie standen ihren Kunden und Mitgliedern als verlässliche Finanzdienstleister zur Seite. Das Regionalitätsprinzip erweist sich hier noch in einer weiteren Hinsicht als vorteilhaft: Die Beraterinnen und Berater der Volksbanken und Raiffeisenbanken kennen ihre Kreditkunden noch persönlich. Bei verbrieften US-Immobilienhypotheken zu erkennen, dass diese faul sind, ist ungleich schwieriger, wie viele Banken 2007/2008 schmerzlich erfahren mussten.

Warum haben es gerade Genossenschaften geschafft, Antworten auf die jeweiligen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Herausforderungen zu geben? Sehen Sie Muster?

Heydenreuter: Menschen möchten in ihrem Privatleben, ihrem Umfeld, ihrem Beruf und in Wirtschaft, Staat und Gesellschaft vor allem Klarheit. Klarheit ist die Voraussetzung für Freiheit. Und frei entscheiden kann nur, wer die Umstände kennt und darauf vertrauen kann, dass er nicht über den Tisch gezogen wird. Die Genossenschaftsidee ermöglicht genau das. Sie schafft es, für ein Miteinander von Freiheit und Gleichberechtigung zu sorgen. Die Menschen sind Subjekt, nicht Objekt. Sie können mitsprechen und mitentscheiden. Das ist die große Stärke der Genossenschaft gegenüber allen anderen Wirtschaftsmodellen.

„Auch in dieser Krise wird sich die genossenschaftliche Organisation behaupten.“

Können wir daraus Lehren für die heutige Zeit ziehen? Auch die Genossenschaften stehen vor großen Herausforderungen, die etwa Inflation, Lieferprobleme und hohe Energiekosten mit sich bringen – nicht zuletzt ausgelöst durch den Ukraine-Krieg.

Heydenreuter: Gerade in einer Zeit, in der sich Politik und Gesellschaft auf die eigenen Kräfte und die regionalen Stärken zurückbesinnen, ist das Miteinander eminent wichtig. Deshalb bin ich überzeugt, dass sich die genossenschaftliche Organisation auch in dieser Krise behaupten wird. Gerne möchte ich das mit einem Plädoyer verbinden: In der Westukraine, das als Kronland Galizien zur K.-und-k.-Monarchie und dann bis 1939 zu Polen gehörte, war die Genossenschaftsidee bereits voll entwickelt. Die Menschen wussten also, bevor das zaristische und kommunistische Russland die Macht übernahm, was eine freie und selbstbestimmte Wirtschaftsordnung bedeutet. In diesem Sinne ist gerade auch die Genossenschaftsorganisation aufgerufen, die Ukraine auch nach Beendigung dieses schrecklichen Kriegs intensiv zu unterstützen.


Herr Professor Heydenreuter, vielen Dank für das Gespräch!

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