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Die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion (EWWU) ist ein in vielerlei Hinsicht noch unvollendetes Projekt. Um dessen zwei Grundversprechen nachhaltig einlösen zu können, sowohl als Friedensgarant als auch als Wohlstandsmotor zu dienen, sind Reformen angezeigt, die der EWWU eine anreizkompatible Architektur verleihen. Drei grundlegende Prinzipien sollten diesen Reformprozess leiten:

  • das Primat der Subsidiarität,
  • die Einheit von Haftung und Kontrolle
  • und die Suche nach Einheit in Vielfalt.

Dann – und aller Voraussicht nach nur dann – kann jeweils die richtige Balance zwischen Eigenbeiträgen und Solidarität der Gemeinschaft und zwischen der Befähigung zum internationalen Wettbewerb und sozialem Schutz gefunden werden.

Der gedankliche Kompass

Die weitere Integration Europas ist ein ebenso wichtiges wie lohnenswertes Projekt. Verbunden mit Jahrzehnten ansprechenden Wirtschaftswachstums hat der mit der EWWU angestrebte Integrationsprozess Europa zwar eine historisch einzigartig lange Ära des Friedens beschert. Während des vergangenen Jahrzehnts der wirtschaftlichen Rückschläge erhielten europakritische Strömungen jedoch erheblichen Zulauf. Es ist daher erfreulich, dass aus der Politik immer wieder Appelle zur Vertiefung des europäischen Zusammenhalts zu hören sind, etwa die wiederholten Vorstöße des französischen Präsidenten Emmanuel Macron. Dies lässt hoffen, dass bei den anstehenden Europawahlen nicht nur die europakritischen Populisten viele ihrer Wähler zum Gang an die Wahlurne animieren können.

„Um Europa voranzubringen, reicht es nicht aus, Handlungswillen zu demonstrieren. Auch die Handlungsqualität muss stimmen.“

Doch um das gemeinsame Europa nachhaltig voranzubringen, reicht es nicht aus, Handlungswillen zur Weiterentwicklung der EWWU zu demonstrieren. Auch die Handlungsqualität muss stimmen: Jetzt angestrengte Reformen sollten erstens darauf abzielen, die anreizkompatible Ausgestaltung der EWWU zu verbessern, um eine Wiederholung von Fehlentwicklungen wie vor der Krise im Euro-Raum zu vermeiden. Sie sollten zweitens unbedingt die Einführung neuer Regelungen und Institutionen vermeiden, die selbst zum Keim von Fehlentwicklungen werden und damit zu neuen Konflikten oder Krisen führen könnten. Und drittens kommt es auch bei der Reihenfolge der Reformen darauf an, nie die Grundvoraussetzung der Anreizkompatibilität aus dem Auge zu verlieren.

Nur ein klarer gedanklicher Kompass, der diese drei Anforderungen beherzigt, kann den Architekten einer erneuerten EWWU helfen, ihre komplexe Aufgabe zu bewältigen. Erforderlich ist daher eine konsequente Ausrichtung an drei grundlegenden Prinzipien:

  • Jegliche Ausweitung europäischer Kompetenzen muss (i) vom unverrückbaren Subsidiaritätsprinzip ausgehen: Gemeinsames Handeln ist dann und nur dann angezeigt, wenn davon ein europäischer Mehrwert ausgeht, wie etwa bei der Europäischen Bankenunion. Die Verwendung europäischer Mittel als Pauschalsubventionen mit reinem Umverteilungscharakter verstößt gegen dieses Prinzip und schürt nur Verteilungskonflikte.
  • Sie muss zudem (ii) die Einheit von Haftung und Kontrolle und somit insbesondere die fiskalische Eigenverantwortung der Mitgliedsstaaten beherzigen. Denn supranationale Haftung ohne Souveränitätsverzicht kann kein nachhaltiges Arrangement darstellen. Schon allein deshalb sollten nur solche Aufgaben gemeinschaftlich in Angriff genommen werden, deren Ansiedlung auf supranationaler Ebene einen klaren Mehrwert verspricht.
  • Und sie sollte gleichzeitig (iii) die Vielfalt Europas als besondere Stärke respektieren. Denn in einer komplexen Welt, die ständig neue Herausforderungen erzeugt, wird es darauf ankommen, agil genug zu bleiben, um auf diese ebenso beständig neue Antworten zu finden. Die Aussicht darauf ist umso größer, je mehr Entscheidungsträger in diesem Entdeckungsprozess von den Ansätzen anderer lernen können.

Einordnung der aktuellen Diskussion

Die Politik der europäischen Integration folgte diesem gedanklichen Kompass in der Vergangenheit nur in begrenztem Ausmaß. Nun ist die EWWU auch ein Arrangement ohne einen naheliegenden historischen Präzedenzfall. Denn eine gemeinsame Geld- und Wechselkurspolitik anzustreben, gleichzeitig die Souveränität für die Fiskal- und Wirtschaftspolitik auf nationaler Ebene zu belassen und das alles in einer Zeit zu wagen, in der die Finanzmärkte eine derart überragende Rolle für die makroökonomische Entwicklung eingenommen haben, ist ein einmaliges Unterfangen. Daher überrascht es nicht, dass die Vorstellungen über eine nachhaltige Architektur weit auseinander gehen. Nicht wenige Beiträge zu dieser Diskussion würden nach wie vor betonen, dass eine gemeinsame Geldpolitik ein (fiskal-)politisches Gegengewicht und „intelligente“ diskretionäre politische Entscheidungen benötigt.

Befürworter eines eher regelgebunden Vorgehens hingegen würden stattdessen das alles überstrahlende Problem der drohenden Zeitinkonsistenz politischer Entscheidungen betonen, aus dem man sich nur durch vorab vereinbarte Regeln und ihre konsequente Durchsetzung wirksam befreien kann. Diesen kritischen Stimmen nicht stringent gefolgt zu sein, hat sich in der Krise gerächt, die der Euro-Raum in den vergangenen Jahren durchlaufen hat: Die ursprünglich verabredeten Maßnahmen zur Krisenprävention erwiesen sich als unzureichend. Denn einander zu versprechen, sich im Krisenfall gegenseitig keine fiskalische Unterstützung zu gewähren („no Bail-out“), dieses Versprechen aber nicht glaubwürdig durch Vorkehrungen zu unterfüttern, konnte letztlich nicht gutgehen.

„Die Bereitschaft, Integrationsschritte um ihrer Symbolwirkung Willen zu verfolgen, birgt den Keim neuer Konflikte in sich.“

Die politischen Weichenstellungen der vergangenen Jahre waren dann wiederum mehr oder weniger kompatibel mit den drei grundlegenden Prinzipien. Die zentralen Reformen, etwa die Verstärkung des Stabilitäts- und Wachstumspakts, die Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) und die Einrichtung der Europäischen Bankenunion, waren grundsätzlich anreizkompatibel ausgestaltet und führten daher in Richtung einer Architektur im Sinne eines „Maastricht 2.0“. Leider ist die politische Rhetorik dem in diesen Reformen reflektierten impliziten Verständnis von Anreizen und daraus erwachsenden Anforderungen an nachhaltige vertragliche Arrangements nicht konsequent gefolgt. Die häufig weiterhin zum Ausdruck kommende Bereitschaft, Integrationsschritte um ihrer Symbolwirkung Willen zu verfolgen und die Prüfung der mit ihnen verbundenen Anreizprobleme hintanzustellen, birgt vielmehr den Keim neuer Konflikte in sich.

Konkrete Wege zu einer nachhaltigen EWWU

Die Suche nach einer nachhaltigen Struktur für die EWWU sollte sich konsequent an den drei grundlegenden Prinzipien ausrichten. Dabei stehen drei Handlungsfelder im Mittelpunkt:

Erstens gilt es, die Europäische Bankenunion zu vollenden und eine europäische Kapitalmarktunion zu verwirklichen. Dazu nötige Schritte sind die konsequente Bereinigung von Altlasten in den Bankbilanzen, die Abschaffung der Privilegierung staatlicher Schulden und die Vollendung unabhängiger europäischer Aufsichts- und Abwicklungsregime. Erst im Anschluss daran sollte eine gemeinsame Einlagensicherung auf europäischer Ebene angestrebt werden.

Zweitens müssen die Mitgliedsstaaten mehr eigenverantwortlich handeln, denn eine Bereitschaft der Bürger, einem umfassenden Souveränitätsverzicht in der Fiskal- oder der Arbeitsmarktpolitik zuzustimmen, lässt sich nicht erkennen. Im Gegenteil: Die Stärkung des No-Bail-out-Prinzips würde nahelegen, ein klares Verfahren zur Schuldenrestrukturierung für Staaten in Schieflage zu vereinbaren. Dies würde Hand in Hand mit einer größeren fiskalpolitischen Disziplin der Mitgliedsstaaten, mehr Regeltreue und verstärktem Bemühen um eine Steigerung ihres Wachstumspotenzials durch angebotsseitige Reformen gehen.

Drittens gilt es, konsequent das gemeinsame wirtschaftspolitische Handeln auf Themen mit europäischem Mehrwert zu konzentrieren. Dies könnten etwa eine gemeinsame Sicherheits-, Verteidigungs- und Außenpolitik oder die Förderung von Grundlagenforschung sein. Der aktuell drängendste Anwendungsfall wäre die gemeinsame europäische Klimapolitik. Ihr sollte das Augenmerk gelten, keinen gemeinsamen Fiskalbudgets.


Prof. Dr. Christoph M. Schmidt ist Präsident des RWI — Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung, Vorsitzender des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung und Professor für Wirtschaftspolitik und Angewandte Ökonometrie an der Ruhr-Universität Bochum.

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