Zukunftsentscheidung: Die Europawahl wirft ihre Schatten voraus. Von ihrem Ausgang hängt viel ab – auch für die bayerischen Genossenschaften.
„The time to repair the roof is when the sun is shining.“ In den vergangenen eineinhalb Jahren bemühte vor allem EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker dieses Zitat John F. Kennedys, um für seine Ideen einer Reform der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion zu werben. Inzwischen haben sich die viel zitierte Sonne beziehungsweise die europäischen Konjunkturaussichten stark eingetrübt und dennoch ist die Eurozone von einer nachhaltig stabilen Wirtschafts- und Währungsunion weit entfernt. Die meisten Reformvorschläge – vornehmlich aus Brüssel und Paris – liegen nach wie vor auf dem Verhandlungstisch.
Mehr Eigenverantwortung statt Regelmissachtung
Eine stabilitäts- und wachstumsorientierte sowie bürgernahe Wirtschafts- und Währungsunion sollte sich an bestehenden europäischen Regeln und Grundprinzipien orientieren. Hervorzuheben sind vor allem das Haftungs-, das Wettbewerbs- und das Subsidiaritätsprinzip.
So wie eine freie Marktwirtschaft nur funktionieren kann, wenn Unternehmer für die Folgen ihrer Handlungen einstehen, kann eine Währungsunion mit souveränen Staaten dauerhaft nur Bestand haben, wenn Staaten die Verantwortung für ihre Entscheidungen selbst tragen. Der erforderliche Einklang von Handlung und Haftung gilt in besonderem Maße für die Solidität und Stabilität der Staatsfinanzen. Andernfalls kann eine Mithaftung von Staaten zu einer wenig verantwortungsvollen, nicht nachhaltigen und gegenüber der Staatengemeinschaft unsolidarischen Fiskalpolitik führen. Die seit Bestehen der Eurozone weit über 100 Überschreitungen der europäischen Defizitgrenze ohne eine einzige Sanktion zeigen, dass der richtige Weg mehr Eigenverantwortung und nicht Regelmissachtung und die Zementierung fiskalischer Transfers oder Forderungen ist.
Die Beachtung des Wettbewerbsprinzips hat zur Folge, dass weder staatliche Eingriffe noch marktbeherrschende Strukturen die Qualität und Quantität der Produkte oder deren Preise wohlfahrtsschädigend verzerren. Die Unternehmen müssen sich vielmehr im Wettbewerb stehend am Markt behaupten, indem sie ihr Angebot mit den Käuferpräferenzen und deren Veränderung in Einklang bringen. Die Konkurrenz wird vor unfairem Wettbewerb geschützt und der Konsument vor zu hohen Preisen bewahrt. Wettbewerb verhindert Erstarrung, Machtmissbrauch und ist der Schutz der „Kleinen“, weil er als Entmachtungsinstrument immer neue Chancen bietet und Aufstieg ermöglicht.
Vielfalt der Regionen berücksichtigen
Bei der Verlagerung von politischen Kompetenzen auf die europäische Ebene sollte zudem das Subsidiaritätsprinzip handlungsleitend sein, wie es in Artikel 5 des EU-Vertrags verankert ist. Demnach darf die EU nur in den Bereichen tätig werden, die nicht durch nationale, regionale oder lokale Politik besser adressiert werden können. So werden die wirtschaftliche, politische und kulturelle Vielfalt der Regionen und lokale Präferenzen besser berücksichtigt. Ebenfalls werden Bürgernähe und demokratische Kontrolle gestärkt und die Akzeptanz der EU erhöht, indem sie sich auf Bereiche mit einem wirklichen europäischen Mehrwert konzentriert. Zudem geht von einem solch dezentralen Ansatz ein Systemwettbewerb aus, der ein gegenseitiges Lernen voneinander fördert.
Wie sind die auf dem Verhandlungstisch liegenden Reformvorschläge dahingehend zu bewerten?
Abzulehnen sind die in der Diskussion stehenden „makroökonomischen Stabilisierungsinstrumente“ wie eine europäische Arbeitslosen(rück)versicherung oder ein Schlechtwetterfonds. Diese könnten nur unter Verwendung massiver steuerlicher Mittel der anderen Mitgliedsstaaten einen Konjunktureinbruch allenfalls kurzfristig abfedern. Langfristig würden jedoch Fehlanreize gesetzt, die ein Abwälzen heimischer Risiken auf die anderen Mitgliedsstaaten begünstigen. Die ökonomische Verantwortung zwischen europäischer und nationaler Ebene würde verwischt. Außerdem resultieren selbst abrupt auftretende wirtschaftliche Schieflagen zumeist aus strukturellen Fehlentwicklungen, die durch Finanztransfers nicht gelöst werden. Als „Versicherungslösung“ eingeführte Mechanismen können schnell zu einem dauerhaften europäischen Subventionssystem für nationale Sozialpolitiken führen und dringend benötigte Reformvorhaben in den Mitgliedsstaaten unterminieren.
Was gegen einen EU-Finanzminister spricht
Ebenfalls abzulehnen ist die Einführung eines europäischen Finanzministers, der die fiskalischen Regeln überwachen und aus den Reihen der Vizepräsidenten der EU-Kommission besetzt werden soll. Erstens müsste ein solcher Finanzminister nicht nur umverteilende Maßnahmen vornehmen, sondern effektive Durchgriffsrechte auf die nationalen Haushalte erhalten, um den Einklang von Handlung und Haftung auf europäischer Ebene zu gewährleisten. Zu einem solchen Souveränitätsverzicht, der die nationalen Parlamente aus der Entscheidungs- und Kontrollfunktion herausnimmt, sind aber selbst die südeuropäischen Mitgliedsstaaten und Frankreich nicht bereit.
Zweitens ist dem Subsidiaritätsprinzip folgend nicht klar ersichtlich, weshalb ein europäischer Finanzminister besser über die nationalen oder regionalen Belange der Bevölkerung Bescheid wissen sollte. Erfolg und Misserfolg von Politik werden von Wählern vor allem dann honoriert oder sanktioniert, wenn die Konsequenzen politischen Handelns vor Ort spürbar und klar zuzuordnen sind. Ansonsten läuft eine Konstellation ohne Checks und Balances dem demokratischen Grundverständnis zuwider.
Drittens würde eine Auslagerung der Regelüberwachung auf eine Institution, die nach wie vor Teil der EU-Kommission ist, das Problem der geringen Regeleinhaltung nicht lösen. Denn mitverantwortlich für die mangelnde Regeleinhaltung und -durchsetzung ist seit einigen Jahren die Kommission selbst, indem sie mit den Mitgliedsstaaten in einen politischen Verhandlungsprozess tritt und bislang großzügig entscheidet, nicht sanktionieren zu wollen.
Eine verlässliche Einhaltung der europäischen Fiskalregeln kann vielmehr durch eine Entpolitisierung des Sanktionsverfahrens ohne diskretionäre Spielräume für die Politik erreicht werden. An dieser Stelle sollte die angestrebte Weiterentwicklung des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) ansetzen. Beim ESM sollten die Überwachung der Fiskalregeln und ein staatliches Insolvenzregime angesiedelt werden. Eine Insolvenzordnung für Staaten entlang soweit wie möglich vorab bestimmter, objektiver Kriterien würde den politischen Druck zur Solidarhaftung erheblich reduzieren, wie die Erfahrung der Schweizer Insolvenzordnung für Gemeinden zeigt. Dies würde die Glaubwürdigkeit der europäischen Nicht-Beistandsregel verbessern und zu einer stärkeren Marktdisziplinierung der Finanzpolitik führen.
Eurozonen-Budget schafft Fehlanreize
Wenn es um die angestrebte Konvergenz der Mitgliedsstaaten geht, ist das auf dem Verhandlungstisch liegende Eurozonen-Budget ebenfalls kritisch zu bewerten. Erstens ist der Mehrwert des vorgeschlagenen Haushalts zweifelhaft, da bestehende Programme wie die fünf Europäischen Investitions- und Strukturfonds, der Juncker-Investitionsfonds, Finanzierungsmöglichkeiten über die Europäische Investitionsbank und aktuell diskutierte Programme wie InvestEU und das Reformhilfeprogramm vergleichbare Ziele erfüllen. Zweitens kommen aktuelle Schätzungen zu dem Schluss, dass die Regional- und Strukturpolitik der EU bislang eher negative Wachstumseffekte generiert, die aus Mitnahmeeffekten sowie Über- und Fehlinvestitionen resultieren. Drittens käme eine externe Finanzierung nationaler Reformen, wie im Eurozonen-Budget zusätzlich vorgesehen, einer Situation gleich, bei der man den Nachbarn dafür bezahlt, dass dieser seinen eigenen Rasen mäht. Sinnvolle Strukturreformen sollten im Eigeninteresse von Staaten liegen, eine finanzielle Reformbelohnung untergräbt hingegen die haushaltspolitische Eigenverantwortung.
Auch die für die Einnahmegenerierung vorgesehene Finanztransaktions- und Digitalsteuer überzeugen nicht. Abgesehen von den voraussichtlich geringen Einnahmen würden beide Steuern vermutlich dazu führen, dass Europa im globalen Wettbewerb der Finanzmärkte sowie im Technologiebereich zurückfällt. In der Absicht, vom wachsenden Finanz- und Digitalkuchen steuerlich profitieren und die Finanzspekulanten sowie amerikanischen Internetfirmen abstrafen zu wollen, schneidet man sich am Ende vermutlich ins eigene Fleisch. Denn statt den großen Investoren wird man die auf den heimischen Markt konzentrierten kleinen Anleger treffen und neben Google oder Amazon die eigene Exportindustrie, wenn im Rahmen der Diskussion um digitale Betriebsstätten die Besteuerungsrechte in diejenigen Länder verlagert werden, in denen der Endverbrauch stattfindet. Gerade exportorientierte Volkswirtschaften wie Deutschland hätten dann das Nachsehen.
Ähnliches gilt für das derzeit bei französischen und deutschen Politikern gleichermaßen populäre Ziel, europäische Champions durch gezielte Industriepolitik und Änderungen am EU-Wettbewerbsrecht kreieren zu wollen. Ein veraltetes Wettbewerbsrecht, das Fusionen angeblich zunehmend erschwert, lässt sich allerdings nicht belegen. Ein Blick in die europäischen Fusionsstatistiken zeigt, dass seit 1990 gerade einmal 0,4 Prozent oder 29 von 7.289 von der EU-Kommission geprüften Fusionsvorhaben abgelehnt wurden, seit 2002 sogar nur 0,2 Prozent (elf von 5.427 Vorhaben) – der kürzlich untersagte Zusammenschluss von Alstom und Siemens eingeschlossen.
Auch die Hysterie um chinesische Investitionen ist übertrieben. Durch die kürzlich vollzogene Änderung der Außenwirtschaftsverordnung kann die Bundesregierung nun ein Veto einlegen, wenn ein ausländischer Investor mehr als zehn Prozent an einer Firma übernehmen möchte. Davor war dies erst ab einem Anteil von 25 Prozent möglich. Um dieses Vetorecht nicht über Investitionsumwege innerhalb der EU umgehen zu können, wäre eine europäische Harmonisierung der nationalen Vetokriterien sinnvoll. Auch hier würde man sich aber vermutlich am Ende selbst treffen. Denn staatlich unterstützte europäische Champions bedeuten einerseits, dass man die Konsumenten im Ausland mit europäischen Steuern subventioniert und andererseits, dass durch die Schaffung europäischer Monopole die Konsumenten in Europa höhere Preise zahlen müssen.
Gefahren durch EU-Einlagensicherung
Besser wäre es, den EU-Binnenmarkt weiter zu stärken, indem die fragmentierten europäischen Kapitalmärkte zu einer Kapitalmarktunion vereint werden und somit den Firmen mehr Wagniskapital zur Verfügung zu stellen. Eine bessere Kapitalmarktintegration könnte zudem die beabsichtigte makroökonomische Stabilisierungsfunktion quasi automatisch übernehmen. Darüber hinaus gilt es, bei der Weiterentwicklung der Bankenunion die gegenseitige Abhängigkeit von Staaten und Banken durch eine Eigenkapitalunterlegungspflicht für Staatsanleihen zu reduzieren sowie die hohen Bestände an notleidenden Krediten weiter abzubauen. Auch die geplante EU-Einlagensicherung (EDIS) würde zwar in gewissem Umfang die Verbindung zwischen der Solvenz von Staaten und Banken entkoppeln, allerdings hat die nationale Wirtschaftspolitik erheblichen Einfluss auf die Risiken im Bankensektor des jeweiligen Heimatlands. Eine europaweite Einlagensicherung würde diese Risiken auf die Gemeinschaft übertragen. Letztlich besteht die Gefahr, dass eine gemeinsame Einlagensicherung indirekt für Staatsschulden einzelner Länder einsteht.
Um die Finanzmarktstabilität weiter zu erhöhen, sollte zudem die extrem expansive Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) schnell zu einer Normalisierung geführt werden. Die Null- und Negativzinsen sowie Anleihekäufe der EZB haben zu einem Marktumfeld geführt, das die Zinsmargen der Banken belastet und die Lebensversicherer vor große Herausforderungen stellt. Außerdem drohen Blasenentwicklungen bei den Vermögenspreisen. Darüber hinaus führen die Anleihekäufe zu fatalen Anreizwirkungen in den Reform- und Konsolidierungsbemühungen der Eurostaaten. Seit 2012 wird ein nachlassender Reformeifer durch Analysen der OECD bestätigt. Zudem wurden von den länderspezifischen Reformempfehlungen im Rahmen des Europäischen Semesters in den vergangenen vier Jahren keine einzige Empfehlung vollständig umgesetzt und seit 2011 lediglich 1,3 Prozent.
Die dargelegten Beispiele verdeutlichen, dass es wenig Sinn macht, das „europäische Dach“ kostenintensiv ausbessern zu wollen, bevor nicht ein nachhaltig solides Fundament – die einst versprochene Stabilitätsunion – gelegt ist. Insofern führt das eingangs erwähnte Zitat in die Irre. Passender scheint, bei der Reform der Wirtschafts- und Währungsunion auf die ältere Sentenz des Komponisten Anton Bruckners zu vertrauen: „Wer hohe Türme bauen will, muss lange beim Fundament verweilen.“
Dr. Jörg König leitet seit 2014 den Bereich Europa bei der Stiftung Marktwirtschaft in Berlin.