Bürgernah: Europa muss ein Projekt für die Menschen werden. Dafür spricht sich der EVP-Spitzenkandidat Manfred Weber im Gespräch mit „Profil“ aus.
Wenn es um Geld geht, hört bekanntermaßen jede Freundschaft auf. Die Europäische Union (EU) macht da keine Ausnahme. Zwar kann man gerade nach der Staatsschuldenkrise Ländern wie Deutschland und anderen Nationen kaum mangelnde Solidarität vorwerfen. Dass aber die Mission „Rettet Griechenland“ frei von jedem Eigennutz – Sicherung der gewährten bilateralen und europäischen Hilfen – gewesen wäre, würde nicht einmal der amtierende Kommissionspräsident behaupten. Diese EU agiert nicht als Gemeinschaft, sondern als Union mit 28 starken, autonomen Staaten.
Das wollten die Bürger so, die 2005 eine gemeinsame Konvention abgelehnt haben. Zynisch gesagt müsste man formulieren: Jetzt haben wir den Salat. Und es gibt kaum einen Bereich, in dem das Thema Vergemeinschaftung so umstritten ist, wie bei Finanzen und Wirtschaft. Natürlich standen alle wie eine Eins zu dem Plan einer Bankenunion, versprach diese doch die dauerhafte Auslagerung aller Risiken von Banken und Sparkassen auf neue Rücklage-Fonds und somit die Schonung der Staatsfinanzen. Doch bereits die Ausformulierung der einzelnen Säulen ließ die vorhandenen Unterschiede wieder aufbrechen. Dabei ging es gar nicht um bösen Willen, sondern schlicht um die Unvereinbarkeit vorhandener Strukturen.
Krisen exportieren, Guthaben importieren
Ein Beispiel ist die nachgebesserte Eigenkapitalausstattung gemäß der Basel-III-Regeln. Deutschland konnte gerade bei Immobilienkrediten auf eine solide Basis verweisen. In anderen Ländern sah die Situation düsterer aus, was nicht unbedingt etwas mit der finanziellen Stabilität der Institute zu tun hatte, sondern auch mit der Eigenheimquote: In der Bundesrepublik sind Immobilien zwar beliebt, aber längst nicht so verbreitet wie zum Beispiel in Frankreich. Das schafft andere Voraussetzungen und andere Herausforderungen. Das Verständnis der EU-Familienmitglieder füreinander und die jeweiligen regionalen Probleme blieb verkürzt.
Kaum anders sieht das bei den Plänen zur Einlagensicherung aus. Während die hiesigen Geldhäuser auf längst funktionierende Systeme auch innerhalb der Institutsverbünde verweisen konnten, mussten die Südländer passen. Es dürfte niemanden wundern, dass vor allem Italien, Spanien, Griechenland, Malta und weitere Staaten von der Idee einer Vergemeinschaftung der vorhandenen Systeme begeistert waren. In Deutschland führte dies schnell zu der Position der Bundesregierung, dass die vorhandenen Risiken nicht durch eine gemeinsame Einlagensicherung zu beseitigen sind, sondern in eigener Verantwortung. Es ist das Missverständnis von Solidarität, die Krisen nur zu gerne exportieren, aber Guthaben importieren will.
Vereinbarungen mit kurzer Halbwertszeit
Hinzu kommt, dass die Halbwertszeit gegebener Versprechen und beschlossener Vereinbarungen stets relativ kurz ist. Noch auf dem Höhepunkt der Finanzkrise erfanden die Kassenwarte des Euro-Raums Kontrollmechanismen wie die Berichtspflicht der Regierungen über ihre Etatentwürfe an die Kommission. Der wiederum übertrug man das Recht, während des europäischen Semesters die Rahmendaten der Haushalte zu prüfen und gegebenenfalls Korrekturen in Form von „Empfehlungen“ zu erlassen. Doch wehe, das geschah. Italien fühlte sich brüskiert, der frühere französische Staatspräsident François Hollande schäumte in bester Stammtischmanier gegen „die in Brüssel“.
Solches Gerede hat Methode, wie man weiß. Denn es hilft. Über 160 Ermahnungen wegen zu hoher Neuverschuldung hatte es in den vergangenen Jahren gegeben, zu Strafen kam es noch nie. Die Bankenunion mit ihrer Haftungskaskade war längst erfunden, beschlossen, verabschiedet und in Kraft getreten, als die Kommission Italien 2017 erlaubte, mit gut 17 Milliarden Euro die Veneto Banca und die Banca Popolare di Vicenza zu retten. Es war ein Tabubruch – natürlich. Denn genau diese Situation sollte eigentlich nicht wieder passieren.
Wiederkehrende Sündenfälle
Als Berichterstatter in Brüssel erlebt man solche Sündenfälle immer wieder. Weil die Kommission, vor allem aber die zuständigen Ministerräte, nur selten ordnungspolitisch, aber sehr häufig politisch opportun und pragmatisch entscheiden. Uns nicht nur sie. EU-Gesetze fallen nicht vom Himmel, sie werden angestoßen. Vor einigen Monaten saßen die wichtigsten Beteiligten für das Projekt „selbstfahrendes Auto“ bei einer Podiumsdiskussion zusammen: Hersteller, Netzbetreiber, Software-Spezialisten. Mit dabei der zuständige Beamte der EU-Kommission. Er stellte vor allem Fragen: Was braucht ihr von uns? Was müssen wir regulieren, damit wir in Europa weiterkommen? Er nahm viele Anregungen mit ins Büro. Die EU-Kommission hat gelernt zuzuhören, Konsultationen zu starten, ehe sie etwas reguliert.
Und dann ist da noch ein Gremium, vielleicht das wichtigste überhaupt: der Ausschuss der Ständigen Vertreter (AStV). In diesem Kreis tagen die EU-Botschafter der Mitgliedsstaaten. Dort wird verhandelt, dort finden auch die politischen Gegengeschäfte statt: Wenn du bei meiner Vorlage mitmachst, könnte ich dir da entgegenkommen. In dieser Runde werden die „Pakete“ gepackt. Soll heißen: Anstehende Entscheidungen für die nächsten Ministerräte fasst man zusammen, um sie gemeinsam abzustimmen. Was die EU-Kommission vorlegt, was das Parlament beschließt – in diesem Kreis werden die endgültigen Weichen gestellt. Der AStV gilt nicht ohne Grund als das mächtigste Gremium in Brüssel.
In der nächsten Legislaturperiode haben die EU-Botschafter eine geradezu umwerfende Neuerung auf dem Tisch. Denn kurz vor dem Ende ihrer Amtszeit hat die EU-Kommission einen Vorstoß gewagt, der entweder mutig oder selbstzerstörerisch ist: Sie präsentierte eine Vorlage, um die Einstimmigkeit im Finanzministerrat (Ecofin) abzuschaffen. Was das bedeuten würde, kann man sich bislang nur ausmalen. Kein Land – ausdrücklich sei hinzugefügt: auch Deutschland nicht – könnte ein Veto einlegen. Das Überstimmen auch großer Mitgliedsstaaten würde zumindest theoretisch denkbar. Die Dauerbrenner Finanztransaktions- oder Digitalsteuer wären nicht mehr zu bremsen.
Heilige Kühe sollen geschlachtet werden
Tatsächlich haben sich die EU, vor allem aber die Währungsunion vorgenommen, einige heilige Kühe in der nächsten Legislaturperiode zu schlachten. Dazu gehört auch das Beseitigen von Schieflagen bei der Europäischen Zentralbank (EZB). In Brüssel wird erwartet, dass der Nachfolger von Präsident Mario Draghi, der bis November feststehen soll, diese Bereitschaft mitbringt. Denn allen war von Anfang an klar, dass die Europäische Bankenaufsicht unter dem Dach der EZB zu Interessenkonflikten führen könnte. Über eine Abtrennung, eine regelrechte Neuinstallation der Prüfer systemrelevanter Geldhäuser, wird schon länger geredet. Doch die Kontrolleure fühlen sich als Unterabteilung der EZB bisher durchaus wohl. Denn sie genießen es, Teil der Unantastbarkeit der Euro-Bank in Frankfurt zu sein.
Seit einiger Zeit verlagert der Europäische Rechnungshof in Luxemburg unter seinem Präsidenten Klaus Heiner Lehne seine Aktivitäten. Geprüft werden nicht mehr nur die Rechnungen, sondern immer häufiger auch die Effizienz der Aufgabenbewältigung. Bei dem Versuch, sich die europäische Bankenkontrolle anzusehen, scheiterten Lehnes Mitarbeiter allerdings. Denn in Frankfurt berief man sich darauf, Teil der EZB zu sein – und die ist sakrosankt. Das mag bei einem Haus, das für die Geldpolitik verantwortlich zeichnet, noch nachvollziehbar sein, aber ganz sicherlich nicht bei den Bankenaufsehern. Auch das gehört zu den Themen, die mit einer Neuausrichtung der Aufseher angepackt werden müssen.
Nicht die europäische Wirtschafts- und Finanzpolitik, wohl aber die Regeln sind häufig Kompromisse. Wenn ein Kompromiss aber vor allem dazu da ist, eigene Geschäftsfelder zu schonen, wenn nicht gar zu bevorteilen, verliert der europäische Gesetzgeber sein wichtigstes Kapital: die Glaubwürdigkeit. Bisher ist die EU auf einem guten Weg, vorausgesetzt, es gelingt ihr weiter, die Anliegen aller Seiten so in ihre Arbeit zu integrieren, dass nicht einer zum Zahler und alle anderen zu Begünstigten werden. Das ist nicht nur ein Wunsch, sondern eine Bedingung, die alle erfüllen müssen – auch die deutschen Stakeholder, die sich nicht selten in Brüssel aufführen, als würde „der Laden ihnen gehören“. Deutschland ist ein Mitglied von (künftig) 27. Und ein Kompromiss ist ein Gewinn, keine Niederlage.
Detlef Drewes (63) lebt seit 14 Jahren in Brüssel. Er ist freiberuflicher Auslandskorrespondent für mehrere deutschsprachige Tageszeitungen, unter anderem die „Augsburger Allgemeine“ und die „Nürnberger Nachrichten“.