Mittendrin: Wie schlimm ist der Fachkräftemangel? Was heißt das für unseren Wohlstand? Regina Flake vom Institut der deutschen Wirtschaft ordnet die Lage ein.
Frau Bangerth, das Thema Fachkräftemangel treibt derzeit viele Unternehmen um. Inwieweit ist auch die DATEV eG betroffen?
Julia Bangerth: Genau genommen sprechen wir von zwei Entwicklungen: Zum einen fehlen mittlerweile der gesamten Wirtschaft nicht nur Fachkräfte, sondern Arbeitskräfte. Deshalb sprechen wir auch von einem branchenunabhängigen Arbeitskräftemangel. Die zweite Entwicklung betrifft konkret den IT-Fachkräfteengpass. Studien gehen davon aus, dass der deutschen Wirtschaft bis 2030 rund eine Million IT-Fachkräfte fehlen. Das spüren auch wir, vor allem mit Blick auf unsere Kernzielgruppe der Entwicklerinnen und Entwickler in den Bereichen Full Stack und Native Cloud, die längst nicht mehr nur von IT-Unternehmen nachgefragt werden. Dennoch befinden wir uns aktuell in einer etwas besseren Position, da wir als lokal bekannte, attraktive Arbeitgeberin im IT-Sektor noch interessante Bewerbungen erhalten. Klar ist aber auch, dass wir zunehmend bundesweit mit anderen Unternehmen konkurrieren, da hilft unsere regionale Bekanntheit weniger.
„Die Passung von Kompetenzbedarf und verfügbaren Kompetenzen auf dem Arbeitsmarkt wird immer schwieriger.“
Bei welchen Stellen sehen Sie den Mangel am deutlichsten?
Bangerth: Rund ein Viertel unserer derzeit 8.600 Mitarbeitenden in Deutschland ist direkt an der Entwicklung unserer Software beteiligt. Dabei ist die Weiterentwicklung unseres Portfolios in Richtung Cloud-Lösungen eine ganz wichtige Zielsetzung. Daher suchen wir momentan vor allem Senior-Entwickler und -Entwicklerinnen in den Bereichen Cloud und Full Stack – Kompetenzen, die momentan überall gefragt sind. Gleichzeitig merken wir, dass die 100-Prozent-Passung von Kompetenzbedarf und verfügbaren Kompetenzen auf dem Arbeitsmarkt immer schwieriger wird. Daher ergänzen wir unsere Recruiting-Anstrengungen gezielt durch Qualifizierungsmaßnahmen – und verfolgen eine nachhaltige Form der Kompetenzentwicklung und Kapazitätsplanung. Sprich, wir unterstützen unsere Beschäftigten, sodass sie auch in Zukunft die richtigen Fähigkeiten besitzen. Das für uns wichtige Schlagwort heißt hier „Skill Shift“.
Stellenanzeige, Social-Media, Personalberatung: Es gibt vielfältige Wege, um qualifizierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter anzusprechen. Welche Kanäle nutzen Sie, was ist am vielversprechendsten?
Bangerth: Wir setzen auf einen vielfältigen Kanalmix – angefangen von klassischen Stellenanzeigen, über Active Sourcing – also die Direktansprache von interessanten Kandidatinnen und Kandidaten – bis hin zu Kampagnen in Sozialen Medien. Nach der Pandemie spielen auch wieder vermehrt Vor-Ort-Veranstaltungen eine Rolle, um mit den Zielgruppen direkt in Kontakt zu kommen. Dabei ist es absolut wichtig, die richtige Plattform für die richtige Zielgruppe zu wählen und sie dort plattformgerecht zu adressieren. Das bedeutet im Umkehrschluss: Die eine Universallösung gibt es nicht. Nur im Zusammenspiel der verschiedenen Kanäle können wir unsere Recruiting-Ziele erreichen.
„Weiterempfehlungen durch die eigenen Mitarbeitenden haben für uns einen immens hohen Stellenwert.“
Welchen Stellenwert nehmen die Weiterempfehlungen von bestehenden Mitarbeitern ein?
Bangerth: Weiterempfehlungen durch die eigenen Mitarbeitenden haben für uns einen immens hohen Stellenwert – denn wer kann glaubwürdiger für unsere Arbeitgeberinnenattraktivität einstehen als eben diese? Wir sind überzeugt, dass potenzielle Bewerbende sehr wohl spüren, ob eine Empfehlung intrinsisch motiviert und aus echtem Zugehörigkeitsgefühl entstanden ist. Deswegen setzen wir auch sehr bewusst nicht auf monetäre oder sonstige Incentives, um die Empfehlungsbereitschaft zu fördern. Gerade die Mundpropaganda, wenn Mitarbeitende uns bei Bekannten, Freunden und Freundinnen weiterempfehlen, hat für uns vor allem in der Region rund um Nürnberg einen wichtigen Multiplikatoreneffekt. Außerdem unterstützen und fördern wir unsere Beschäftigten im Rahmen eines Corporate-Influencer-Programms. Diese DATEV-Botschafter und -Botschafterinnen berichten über ihre Erfahrungen mit uns als Arbeitgeberin in den Sozialen Medien – ganz freiwillig und unentgeltlich.
Mit einem angemessenen Gehalt allein ist es heute zumeist nicht getan. Welche Sonderleistungen bietet die DATEV an, um sich von anderen Unternehmen zu differenzieren?
Bangerth: Wir setzen in unserer Personalstrategie auf einen lebensphasenorientierten Ansatz. Mitarbeitende haben schlicht unterschiedliche Bedürfnisse, abhängig davon, ob sie gerade neu ins Berufsleben einsteigen, eine Familie gründen oder in ihrer Karriere den nächsten Schritt gehen wollen. Daher ist auch unser Angebot vielfältig. Es umfasst sowohl monetäre Maßnahmen wie beispielsweise Sonderzahlungen im Rahmen des Inflationsausgleichs oder den Corona-Bonus, aber auch viele nicht-monetäre Angebote wie Kita-Plätze oder Sabbatical-Regelungen. Gleichzeitig richten wir ein besonderes Augenmerk auf attraktive Arbeitsbedingungen mit flexiblen Regelungen zum Thema Arbeitszeit und mobiles oder ortsunabhängiges Arbeiten.
Wie wichtig ist Ihnen das Thema Kompetenzentwicklung?
Bangerth: Sehr wichtig. In Zeiten zunehmender Transformationsdynamik ist es für alle Mitarbeitenden essenziell, sich sowohl in fachlichen wie persönlichen Bereichen kontinuierlich weiterzuentwickeln. Daher umfasst unser vielfältiges Qualifizierungsangebot neben fachspezifischen Themen auch Soft Skills. Wir wollen so unsere Mitarbeitenden dazu befähigen, ihre Kompetenzen mit Spaß zu erweitern und ihre Veränderungsfähigkeit zu stärken.
„Jüngere Menschen wollen wissen, welche Werte man eigentlich vertritt. Auf solche Fragen sollten sich Unternehmen vorbereiten.“
Welche Anforderungen stellen junge Menschen an Arbeitgeber wie die DATEV und wie reagieren Sie darauf?
Bangerth: Wir sehen, dass vor allem junge Menschen im Bewerbungsgespräch ganz offen fragen, wie wir zu den Themen Ökologie, Nachhaltigkeit oder der Vereinbarkeit von Beruf und Familie stehen. Neben einer gelebten New-Work-Kultur und einem technologisch attraktiven Arbeitsplatz wollen jüngere Menschen also wissen, welche Werte man eigentlich vertritt. Auf solche Fragen sollten sich Unternehmen vorbereiten – und offen kommunizieren, wie sie zu diesen Themen stehen. Gerade hier sehe ich großes Potenzial für Genossenschaften, ihre Werte und damit den vielbeschworenen „Purpose“ in die Waagschale zu werfen. Vor allem mit ihrem nachhaltigem Unternehmenszweck und einer hohen Arbeitsplatzsicherheit können genossenschaftliche Einrichtungen bei der jüngeren Generation punkten. Sie stellt sich nämlich als gar nicht so wechselwillig heraus, wie ihr manchmal nachgesagt wird.
Wie sollte heutzutage ein Arbeitsplatz gestaltet sein, damit die Mitarbeitenden gerne im Unternehmen arbeiten?
Bangerth: Wir schauen uns nicht nur den Arbeitsplatz an, sondern vor allem die Arbeitsbedingungen. Die Pandemie war in gewisser Weise ein Katalysator, weil sie gezeigt hat, dass Arbeit – zumindest im Bereich der Wissensarbeit – nicht per se an einen Ort gebunden ist. Bei der Wahl des Arbeitsorts sollten wir also vielmehr auf die Art der Tätigkeit fokussieren: Welcher Ort, welcher Raum eignet sich am besten für eine spezifische Aufgabe? Der Schreibtisch im Büro als Arbeitsort tritt zurück gegenüber der mobilen Arbeit – im Homeoffice, im Coworking-Space, unterwegs oder im EU-Ausland. Vor diesem Hintergrund übernimmt das Büro zunehmend eine andere Rolle und wird zum Ort der Identifikation, Kommunikation und Kreativität. Dementsprechend bieten wir unseren Beschäftigten grundsätzlich ein hybrides Arbeitsmodell an: Sofern die Tätigkeit es erlaubt, haben alle Mitarbeitenden die Möglichkeit, mobil zu arbeiten. Die einzelnen Teams entscheiden selbst, wie und in welcher Form sie am besten zusammenarbeiten. Darüber hinaus haben wir unseren Beschäftigten die Möglichkeit eröffnet, an anderen DATEV-Standorten und -Niederlassungen zu arbeiten.
Eine zentrale Herausforderung ist es, bestehende Fachkräfte zu halten. Welche Strategien haben Sie?
Bangerth: Grundsätzlich befinden wir uns mit einer Fluktuation von knapp zwei Prozent pro Jahr noch in einer sehr komfortablen Position. Als Genossenschaft, die seit 1966 am Markt ist, wissen wir aber nur zu gut, wie schnell Kompetenzen in der IT durch neue Trends und Technologien aufgefrischt und erneuert werden müssen. Gleichzeitig zeigen Studien immer wieder: Menschen sind gerade dann in ihren Jobs besonders glücklich, wenn sie ihre Arbeit als sinnvoll empfinden und ihre Kompetenzen wirksam entfalten können. Deshalb verfolgen wir besagte Strategie der nachhaltigen Kompetenzentwicklung und Kapazitätsplanung, bei der für uns die Weiterentwicklung und das lebensbegleitende Lernen im Mittelpunkt stehen.
Wie sieht dieses lebensbegleitende Lernen bei Ihnen aus?
Bangerth: In Ergänzung zu klassischen Weiterbildungsangeboten in Form von Seminaren fördern wir gezielt dezentrale Lernformate, die ganz nah am Arbeitsalltag ausgerichtet sind und setzen beispielsweise auf Selbstlernangebote. Um jedoch die Mitarbeitenden bei ihrer Lernreise nicht allein zu lassen, investieren wir viel in die Professionalisierung von Unterstützungsrollen in diesem Bereich. Das sind Kolleginnen und Kollegen, die neben ihrer angestammten Tätigkeit auch beraten, vernetzen und Expertise weitergeben. Wir nennen das bei uns „Lernamigos“. Unsere Beschäftigten haben so die Möglichkeit, sich innerhalb unseres Unternehmens weiterzuentwickeln und sich für andere Stellen zu qualifizieren, ohne dass sie dabei gleich zu einem anderen Arbeitgeber wechseln müssen. Eine Win-win-Situation für beide Seiten: Mitarbeitende sind und bleiben motiviert und uns als Unternehmen hilft das sehr.
„Aus unserer Sicht ist die Digitalisierung ein enorm unterschätzter Ansatz, um dem Fachkräftemangel zu begegnen.“
Das Thema Fachkräftemangel treibt sicherlich auch viele Mitglieder der DATEV um. Inwieweit bieten Sie Unterstützung?
Bangerth: Verschiedene aktuelle Umfragen zeigen, dass über 90 Prozent der Steuerberatungskanzleien den Fachkräftemangel als große Herausforderung sehen. Unsere Seismografen-Studie aus dem letzten Jahr hat ermittelt: 70 Prozent unserer Mitglieder machen den Fachkräftemangel in den Kanzleien für die gestiegene Arbeitsbelastung aus, neben der aktuell sehr hohen Veränderungsdynamik in steuerrechtlichen Aufgaben. In ihrer Geschäftstätigkeit sehen sich sogar 61 Prozent der Kanzleien aufgrund des Fachkräftemangels eingeschränkt. Hinzukommt, dass immer weniger junge Menschen eine Ausbildung als Steuerfachangestellte absolvieren. Daher unterstützen wir unsere Mitglieder auf unterschiedlichen Ebenen. Einerseits über verschiedene Digitalisierungsmaßnahmen und mit digitalen Lösungen. Aus unserer Sicht ist die Digitalisierung ein enorm unterschätzter Ansatz, um dem Fachkräftemangel zu begegnen. Andererseits setzen wir uns gemeinsam mit Kammern und Verbänden dafür ein, jungen Menschen attraktive Zukunftsperspektiven in der Steuerberatung aufzuzeigen.
Wie wollen Sie junge Menschen für das Thema Steuerberatung begeistern?
Bangerth: Hier ist zum Beispiel die Kampagne „Rock Deine Zukunft“ zu nennen, aber auch unsere umfangreichen Partnerschaften mit Bildungseinrichtungen, die in der Ausbildung von Nachwuchskräften im steuerlichen Umfeld involviert sind. Gleichzeitig bieten wir unseren Mitgliedern und ihren Mitarbeitenden umfangreiche Informationen und Seminarprogramme an, um sie einfach und schnell über rechtliche und fachliche Entwicklungen zu informieren.
Welches Potenzial sehen Sie bei Quereinsteigern?
Bangerth: Wir plädieren sehr dafür, dass Kanzleiinhaberinnen und Kanzleiinhaber in ihrer Personalstrategie über den Tellerrand des steuerlichen Fachpersonals hinausblicken und zum Beispiel Quereinsteiger und Quereinsteigerinnen, Diversität und Soziale Medien als Aspekte ihrer Recruiting-Strategie aktiv berücksichtigen. Um diese Potenziale aufzudecken, bieten wir dem Berufsstand entsprechende Beratung zur Personalstrategie und zum Personalmarketing an.
„Lernen und Qualifizieren sind für uns elementare Bausteine, um für Beschäftigte attraktiv zu bleiben und sie langfristig zu halten.“
Können Sie abschließend zusammenfassen, mit welchen Argumenten Sie bei potenziellen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für eine Karriere bei der DATEV werben?
Bangerth: Handlungsleitend ist unsere Markenpositionierung als Arbeitgeberin: Zukunft für viele nachhaltig gestalten mit Menschen, die weit blicken und Sinnvolles umsetzen. Neben attraktiven Arbeitsbedingungen bieten wir unseren Mitarbeitenden daher entsprechende lebensphasenorientierte Qualifizierungsangebote. Lernen und Qualifizieren sind für uns elementare Bausteine, um für Beschäftigte attraktiv zu bleiben und sie langfristig zu halten. Ich halte es für eine immense Chance und eine unternehmerische sowie gesamtgesellschaftliche Aufgabe, Mitarbeitende mit allen Mitteln zu unterstützen, um die eigenen Kompetenzen zukunftsfähig weiterzuentwickeln. Als Genossenschaft haben wir außerdem nicht die kurzfristige Gewinnmaximierung, sondern den nachhaltigen Erfolg unserer Mitglieder im Sinn. So unterstützen wir seit 57 Jahren erfolgreich den Berufsstand mit über 40.000 Mitgliedern und deren mittelständische Mandanten und Mandantinnen. Damit einher geht eine tief verankerte ökologische, wirtschaftliche und soziale Verantwortung, der wir auch als Arbeitgeberin Rechnung tragen.
Frau Bangerth, herzlichen Dank für das Interview!