Vor 125 Jahren hatte sich das ländliche Genossenschaftswesen nach den Ideen Friedrich Wilhelm Raiffeisens bereits im gesamten Deutschen Reich und im angrenzenden Ausland ausgebreitet. Ausgehend von Aschaffenburg, hatte sich das System auch in Bayern durchgesetzt, nachdem die Landbevölkerung anfangs skeptisch war und zum Teil um ihre wirtschaftliche Unabhängigkeit fürchtete.
Wie im Jahresbericht des „General-Comités des Landwirtschaftlichen Vereins in Bayern“ für das Jahr 1892 zu lesen ist, war dies vor allem den Wandervorträgen zahlreicher Geistlicher wie Gustav Baist und Willibald Kaiser sowie dem „hingebenden Wirken“ bayerischer Genossenschaftsgründer wie dem Gastwirt Mathias Ramoser oder dem Fabrikanten Johann Droßbach zu verdanken. So bestanden im Jahr 1892 in Bayern ohne die Pfalz bereits 546 Darlehenskassenvereine mit insgesamt 18.304 Mitgliedern. Mit der wachsenden Zahl an Vereinen vor Ort wuchs zunehmend auch der Wunsch nach Austausch und Vernetzung. In einem ersten Schritt schlossen sich die Vereine deshalb zu Kreisverbänden zusammen.
Genossenschaften in Bayern 1892
Einen weiteren Aufschwung für das bayerische Genossenschaftswesen versprachen sich die Vereine vor allem durch die Gründung eines bayerischen Landesverbands für alle nach dem System Raiffeisen arbeitenden Genossenschaften. Denn während sich bis zu Beginn der 1890er Jahre unter anderem in Hessen, Baden und Württemberg bereits Landesverbände für die dort tätigen ländlichen Genossenschaften gegründet hatten, verfügten die bayerischen Genossenschaften über keinen eigenen Landesverband. Knapp 200 von ihnen hatten sich der von Raiffeisen gegründeten Zentralorganisation in Neuwied angeschlossen, der „General-Anwaltschaft ländlicher Genossenschaften für Deutschland“. Andere waren keinem Verband beigetreten, da eine verpflichtende Mitgliedschaft erst 1934 eingeführt werden sollte. Die Revision dieser Vereine wurde zum Teil von den landwirtschaftlichen Vereinen in Bayern durchgeführt.
Erste Anstöße zur Gründung eines Landesverbands
Auf dem „Vereinstag pro 1891“ der Neuwieder General-Anwaltschaft, der vom 5. bis 7. Juli 1892 erstmals in Süddeutschland stattfand, gab es erste Anstöße zur Gründung eines bayerischen Landesverbands. Mehr als 500 Vertreter des ländlichen Genossenschaftswesens aus dem Deutschen Reich sowie aus Österreich trafen in der Residenzstadt München auf Abgesandte der bayerischen Regierung und den Ersten Bürgermeister der Stadt München, Johannes von Widenmayer. Ebenfalls anwesend war Rudolf Raiffeisen, der einzige Sohn des Genossenschaftspioniers Friedrich Wilhelm Raiffeisen, in seiner Funktion als Generalanwalt der Neuwieder Zentralorganisation. Während des dreitägigen Treffens verstärkte sich die Debatte um die Gründung eines bayerischen Landesverbands, auch weil sich der damalige bayerische Innenminister Maximilian Freiherr von Feilitzsch klar für diese Idee aussprach und die Unterstützung der Regierung in Aussicht stellte.
Die bayerischen Genossenschaftsvertreter waren sich nach dem Vereinstag einig, einen eigenen Verband zu gründen. Es herrschte jedoch Uneinigkeit über dessen Verhältnis zu der Zentralorganisation in Neuwied. Sollte ein bayerischer Verband eng mit ihr zusammenarbeiten, oder aber vollkommen losgelöst von dieser agieren? Schließlich würde der neue Verband zugleich Zentrale, Revisionsstelle und – durch die zusätzliche Gründung einer genossenschaftlichen Zentralkasse – Geldausgleichsstelle sein.
Befürworter eines regionalen, von Neuwied losgelösten Verbands fürchteten durch eine Zentralisierung eine Unterordnung und Zersplitterung der bayerischen Vereine, vielmehr „wolle [man] seine bayerischen Dinge selbst regeln“. Neben klaren patriotischen Motiven sprachen die unterschiedlichen landwirtschaftlichen Verhältnisse sowie betriebswirtschaftliche Gründe ebenso für einen dezentralen, regionalen Aufbau des bayerischen Genossenschaftswesens wie die Aussage der bayerischen Regierung sowie der landwirtschaftlichen Vereine in Bayern, nur einen unabhängigen bayerischen Verband unterstützen zu wollen.
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Angst vor Bürokratie und staatlicher Einflussnahme
Dies ließ jedoch die Gegner eines von Neuwied unabhängigen bayerischen Verbands aufhorchen. Sie befürchteten eine Bürokratisierung des Genossenschaftswesens, wenn sich der Verband zu sehr an die Behörden und landwirtschaftlichen Vereine anlehne. Außerdem zogen sie die tatsächliche Unabhängigkeit eines eigenen Landesverbands in Zweifel, wenn dieser von den Zuwendungen der Regierung abhänge. Vor allem fürchteten sie aber eine Abkehr von dem Neuwieder Verband als „Zentral- und Angelpunkt unserer großartigen Bewegung“, was sie wiederum als Verrat am Erbe des „seligen Vaters Raiffeisen“ betrachteten. Überliefert wird diese, zum Teil sehr heftig ausgetragene Debatte nicht nur durch Korrespondenz und Reden bayerischer Genossenschaftspioniere wie Mathias Ramoser und Willibald Kaiser, sondern ebenso durch zahlreiche Presseartikel, in denen sich die Autoren zum Teil überraschend tendenziös auf eine der beiden Seiten schlugen.
Für oder gegen die Eigenständigkeit?
Nach einem außerordentlichen Verbandstag am 25. Januar 1893 in Donauwörth kam es am 6. und 7. Februar 1893 zu zwei Versammlungen, die entscheidend für die weitere Entwicklung des bayerischen Genossenschaftswesens sein sollten. Zunächst trat am 6. Februar 1893 das General-Comité des Landwirtschaftlichen Vereins für Bayern zur Vorbereitung der Gründung eines bayerischen Landesverbands unter dem Vorsitz des Reichsraths Hugo Graf von Lerchenfeld-Köfering in München zusammen. Neben den Mitgliedern des Komitees nahmen als Gäste ebenso Vertreter des bayerischen Genossenschaftswesens, hauptsächlich des oberbayerischen Kreisverbands, an der Sitzung teil. Sie waren sich einig, dass das vorrangigste Ziel die Gründung eines gemeinsamen bayerischen Landesverbands sei, ob mit oder ohne Anschluss an Neuwied, in keinem Fall jedoch als ein Neuwied untergeordneter Verband. Die Teilnehmer bildeten eine achtköpfige Kommission, die die Statuten ausarbeiten sollte. Sie bestand aus je einem Vertreter der bayerischen Kreisverbände.
Eine Kommission arbeitet die Statuten aus
Auf einer Versammlung im Münchner Kaiserhof, zu der der stellvertretende Generalanwalt Theodor Cremer für den folgenden Tag eingeladen hatte, wurde auf Vermittlung des Pfarrers und Distriktschulinspektors Willibald Kaiser dann folgendes beschlossen:
„1) Die Versammlung erklärt das Zustandekommen des selbständigen Landesverbandes im Interesse der ferneren Wohlfahrt der bayerischen Darlehenskassenvereine für geboten;
2) die Versammlung beschließt, es sei eine Kommission einzusetzen, welche zugleich mit dem Entwurf der Satzungen die Anbahnung weiterer Beziehungen zur Neuwieder Zentraldarlehenskassa zu vermitteln hat.“
Den Vorsitz der Versammlung führte der schwäbische Kreisanwalt Johann Droßbach. Der am vorherigen Tag von dem General-Comité eingesetzten Kommission zur Bildung eines bayerischen Landesverbands schlossen sich nun auch Vertreter der Neuwieder Interessen an.
Im Mai 1893 trafen sich die Mitglieder der Kommission erneut in München. Im Haus des Landwirtschaftlichen Vereins in Bayern in der Türkenstraße 7 – unweit der heutigen Verbandszentrale des Genossenschaftsverbands Bayern (GVB) – fassten sie den einstimmigen Beschluss, einen von Neuwied unabhängigen bayerischen Landesverband ins Leben rufen zu wollen. Damit war ein wichtiger Meilenstein erreicht. Bis zur Gründung des Bayerischen Landesverbandes landwirtschaftlicher Darlehenskassenvereine am 28. November 1893 als erstem Vorläufer des GVB war es jedoch noch ein weiter Weg. Die Genossenschaftsvertreter stritten bis zuletzt über das Gründungsprocedere – aber immerhin, der erste Schritt war getan.
Sana‘a Wittmann ist Mitarbeiterin des Historischen Vereins Bayerischer Genossenschaften. Sie wird gemeinsam mit Geschäftsführerin Silvia Lolli Gallowsky anlässlich des Jubiläums „125 Jahre GVB“ das ganze Jahr über in weiteren Folgen über die Entstehung des Bayerischen Landesverbands landwirtschaftlicher Darlehenskassenvereine berichten, aus dem der GVB hervorgegangen ist.