Wer war Friedrich Wilhelm Raiffeisen?
Friedrich Wilhelm Raiffeisen nimmt in der ersten Reihe der genossenschaftlichen Pioniere einen Ehrenplatz ein. Dank seiner innovativen Ideen haben sich Genossenschaften in Deutschland und weltweit über viele Jahrzehnte erfolgreich entwickelt und nachhaltig entfaltet. Viele Generationen von Genossenschaftsmitgliedern fanden ihre Inspiration in Raiffeisens Gedanken und ergriffen eigene Initiativen. Die Grundprinzipien der Selbsthilfe, der Selbstverantwortung und der Selbstverwaltung geben noch heute überzeugende Antworten auf die unterschiedlichsten gesellschaftlichen und sozialpolitischen Herausforderungen.
Bereits zu seinen Lebzeiten verbreiteten sich die Ideen Raiffeisens. Veröffentlichungen und Korrespondenzen zeugen von einem dichten Netzwerk, das sich in den 1870er und 1880er Jahren von Deutschland nach Russland, Holland, Belgien, Dänemark, Spanien, Italien sowie besonders nach Österreich und in die Schweiz ausbreitete. Raiffeisens Wegbegleiter sahen in ihm eine prägende Persönlichkeit. Ein Beispiel hierfür sind die Zuhörer bei einem Vortragsabend im Oktober 1880 in Regensburg: Wie die Zeitungen damals berichteten, begrüßten sie den Genossenschaftspionier als den „Bürgermeister Raiffeisen“, der „mit der Gründung der Darlehens-Kassenvereine in seiner engeren Heimat begonnen habe, seither entfalten dieselben dort eine äusserst segensreiche Wirksamkeit. Herr Raiffeisen habe seine ganze Thätigkeit dem Genossenschaftswesen mit vollster Hingebung gewidmet, er sei mit vollem Rechte als eine Autorität von eminenter Bedeutung zu betrachten“.
„Mit vollem Recht eine Autorität von eminenter Bedeutung“
Prälat Willibald Kaiser, auch als „bayerischer Raiffeisen“ bekannt, würdigte den echten Raiffeisen nicht nur, indem er selbst viele Genossenschaften gründete, sondern auch in unzähligen Reden und Schriften. Er bezeichnete ihn als „Säkulargestalt, die durch ihr Werk ihren Namen für alle Zeiten überliefert hat“.
Raiffeisen hatte die tiefere Ursache der Not der ländlichen Bevölkerung verstanden und bekämpfte sie durch Selbsthilfeeinrichtungen erfolgreich. Er selbst und seine Biografen stellten die Jahre seiner Bürgermeistertätigkeiten für die Westerwald-Gemeinden Weyerbusch, Flammersfeld und Heddesdorf von 1845 bis 1865 als die entscheidende Lebensphase für die Entwicklung seiner Vision dar. Als junger Bürgermeister versuchte er damals, die wirtschaftlichen Verhältnisse zu verbessern. Für ihn stand jederzeit der Mensch im Mittelpunkt: Er wollte die ihm anvertrauten Bürger aus Abhängigkeit und Not befreien. Besonders fühlte sich Raiffeisen mit jenen verbunden, die unverschuldet in Not geraten waren. Er versuchte, ihnen zu helfen – zunächst mit karitativen Initiativen, dann durch Hilfe zur Selbsthilfe.
Anschluss an die neuzeitliche Marktordnung
Die Entwicklung vom Wohltätigkeits- zum Darlehenskassenverein, also von der Fremd- zur genossenschaftlichen Selbsthilfe, vollzog sich in mehreren Stadien: Erst im Jahr 1866 mit der Veröffentlichung seines bekannten Werks „Die Darlehenskassen-Vereine als Mittel zur Abhilfe der Noth der ländlichen Bevölkerung sowie auch der städtischen Handwerker und Arbeiter“ gab Raiffeisen den Darlehenskassenvereinen ein klares Profil. Nachdem er 1865 aufgrund einer schweren Augenerkrankung aus dem Staatsdienst entlassen wurde, widmete er sich mit voller und uneigennütziger Hingabe 23 Jahre ausschließlich seinem Genossenschaftswerk.
Raiffeisen trug wesentlich dazu bei, dass der gesamte landwirtschaftliche Berufsstand Anschluss an die neuzeitliche Marktordnung fand, sich dem neuen wirtschaftlichen Denken öffnete und die Strukturanpassungen zu meistern vermochte. Nicht nur die Gründung und Verbreitung der Darlehenskassenvereine, sondern auch deren Zukunftssicherung lagen Raiffeisen besonders am Herzen. Dazu dienten die Landwirtschaftliche Zentraldarlehenskasse und der Anwaltschaftsverband. Die drei Säulen – Kassen, Zentralkasse und Verband – hatten nach seinen Vorstellungen für den Bestand des Gesamtwerks und für die Ausbreitung des Genossenschaftsgedankens in besonderem Maße Sorge zu tragen. Diese Pfeiler der genossenschaftlichen Organisation bestehen bis heute. Zusätzliche Wohltätigkeitsengagements der Genossenschaften vervollständigten seinen Plan für eine gerechtere Gesellschaft.
Vom Gedanken der Nächstenliebe eingenommen
Raiffeisen suchte aber nicht nur eine Lösung für die Kreditnöte der ländlichen Bevölkerung. Seine Vision war umfassender. Der Fördergedanke beinhaltete auch das Ziel, die materiellen und sittlichen Verhältnisse zu verbessern. Dadurch unterschied sich Raiffeisen maßgeblich von seinen Zeitgenossen Hermann Schulze-Delitzsch und Wilhelm Haas, für deren Genossenschaftsgründungen rein ökonomische Faktoren ausschlaggebend waren. Raiffeisen war ganz vom Gedanken der Nächstenliebe eingenommen. Die Religiosität prägte ihn als Mensch, als Vater seiner Familie und als Begründer des landwirtschaftlichen Genossenschaftswesens.
Um seinen Ideen Gestalt zu verleihen, suchte Raiffeisen Kontakte zu bedeutenden Persönlichkeiten. In unzähligen Reden und Vorträgen sowie auf Vortragsreisen, unter anderem nach Österreich, Bayern und Württemberg, warb er für die Darlehenskassenvereine als Antwort auf die entstehende soziale Frage. Raiffeisens Ideen stammen aus einer Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs. In seinem Regensburger Vortrag betonte er laut einem Bericht in „Der Bauernfreund. Landwirthschaftliche Mittheilungen“, herausgegeben vom „Kreis-Comité des landwirthschaftlichen Vereins der Oberpfalz und von Regensburg“: „Endlich seien die Darlehenskassenvereine aber ein wichtiger Faktor zur Lösung der socialen Fragen. Sie seien ein kräftiger Hebel zur Entfernung der Socialdemokratie. Dadurch dass die besitzende Klasse mit der ärmeren in ein freundliches Verhältnis trete und so die Kluft zwischen beiden ausgefüllt werde, würden wühlerische Agitationen der Apostel der Socialdemokratie die Spitze abgebrochen. Es sei zwar auf dem Lande in der Beziehung noch besser bestellt, aber stellenweise auch nicht rosig.“
Gesellschaftspolitische Leistung von großer Bedeutung
Raiffeisen wollte der ländlichen Bevölkerung wirtschaftlich helfen, ihre Bildungsmöglichkeiten verbessern und sie von einer politischen Radikalisierung fernhalten. Er wollte einen wohlbegründeten Beitrag zur Sozialpolitik liefern. Sein Werk stellt damit eine gesellschaftspolitische Leistung von großer Bedeutung und eigenem Gewicht dar. Durch die Mitgliedschaft in einer Genossenschaft gab Raiffeisen jedem die Möglichkeit, Verantwortung zu übernehmen und im Sinne einer gerechten Teilhabe mitgestalten zu können. Trotz jahrzehntelanger gesundheitlicher Beschwerden verlor er nicht den Mut, sich für sein Werk einzusetzen. Raiffeisen regte entweder selbst zur Gründung von Kassen an, oder seine einstigen Mitarbeiter und Gefolgsleute wurden selbst zu Pionieren des Genossenschaftsgedankens. Seine Grundidee des freiwilligen Zusammenschlusses und der Solidarität findet bis heute weltweit Anhänger.
Silvia Lolli Gallowsky ist Geschäftsführerin des Historischen Vereins Bayerischer Genossenschaften.