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Herr Professor Guinnane, die Vereinten Nationen haben 2025 zum Internationalen Jahr der Genossenschaften ausgerufen. Was leisten Genossenschaften für Wirtschaft und Gesellschaft – auch aus wirtschaftshistorischer Perspektive?

Timothy Guinnane: Weil Genossenschaften im Besitz ihrer Mitglieder sind, bieten sie eine Organisationsform, die einige der Probleme überwindet, die man in Unternehmen in der Rechtsform AG oder GmbH sieht. Kapitalgesellschaften wird oft „Kurzfristigkeit“ vorgeworfen; Manager und Eigentümer konzentrieren sich auf den nächsten Quartalsbericht. Genossenschaftsmitglieder haben meistens eine langfristige Perspektive, weil das Unternehmen eine wichtige Rolle in ihrem Wirtschaftsleben etwa als Landwirte spielt. Genossenschaften spielen außerdem eine wichtige Rolle bei der Stärkung kleinerer Wirtschaftseinheiten wie Unternehmen oder Bauernhöfe. Unabhängige Landwirte zum Beispiel können zu klein sein, um mit großen Unternehmen, die wichtige Roh- und Hilfsmittel oder Marktprodukte liefern, effektiv zu verhandeln. Die Genossenschaftsform kann es kleinen Produzenten ermöglichen, Größenvorteile zu erzielen, ohne ihre Unabhängigkeit aufzugeben. Weil die Mitglieder auch Eigentümer der Genossenschaft sind und sie somit kontrollieren, können sie sicher sein, dass die Genossenschaft in ihrem Interesse handelt.

Sie haben als Autor maßgeblich an dem Buch zur Geschichte der DZ Bank mitgewirkt. Was kennzeichnet das deutsche Genossenschaftswesen und seine Entwicklung im Vergleich mit anderen Ländern?

Guinnane: Die deutschen Genossenschaften entwickelten sich relativ früh und wurden so in die wirtschaftliche Entwicklung des Landes integriert. Das Drei-Säulen-Bankensystem ist ein Beispiel; die Kreditgenossenschaften beeinflussten das übrige Bankensystem. Die deutschen Genossenschaften waren auch in vielen Sektoren vertreten und arbeiteten auf ungewöhnliche Weise zusammen. Rechtlich gesehen waren deutsche Genossenschaften auch ungewöhnlich, da sie relativ früh ihr eigenes Gesetz hatten; in vielen Ländern wurde eine Genossenschaft als eine besondere Art von Unternehmen gesehen.

„Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden Genossenschaften in mehreren Teilen Westeuropas. Deutschland war zweifellos einer der Pioniere.“

Wie hat sich die Genossenschaftsidee in der Welt verbreitet? Welche Länder waren Vorreiter?

Guinnane: Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden Genossenschaften in mehreren Teilen Westeuropas. Deutschland war zweifellos einer der Pioniere. Um 1900 gab es in ganz Europa Bestrebungen, Genossenschaften zu gründen, und in weiten Teilen des britischen Empires waren zu diesem Zeitpunkt Pioniergenossenschaften aktiv. Die Idee verbreitete sich schnell. Genossenschaften als tatsächliche Unternehmen funktionierten an manchen Orten besser als an anderen. In einigen Ländern waren die Genossenschaften so weit verbreitet wie in Deutschland; in anderen, wie den Vereinigten Staaten, beschränkten sie sich meist auf kleine Teile des Bankensystems und spielten eine wichtige Rolle im Agrarmarketing.

Inwiefern hat das deutsche Genossenschaftswesen mit Genossenschaftspionieren wie Friedrich Wilhelm Raiffeisen und Hermann Schulze-Delitzsch zur Verbreitung der Genossenschaftsidee in der Welt beigetragen?

Guinnane: Die drei deutschen Pioniere waren Schulze-Delitzsch, Raiffeisen und Wilhelm Haas. Haas war eine bedeutende Figur in Deutschland, aber anderswo kaum bekannt. Schulze-Delitzsch hatte einen tiefgreifenden, wenn auch indirekten Einfluss auf Genossenschaften in aller Welt. Englische Genossenschafter griffen seinen Ansatz auf und exportierten ihn dann in Teile des britischen Empire, darunter auch Kanada. Kreditgenossenschaften in den USA – die sogenannten „Credit Unions“ – basieren auf kanadischen Beispielen und sind so indirekt Schulze-Delitzsch zu verdanken. Raiffeisen ist außerhalb Deutschlands am bekanntesten und der Raiffeisen-Ansatz hatte wahrscheinlich den größten Einfluss, zum Teil, weil Genossenschaften in weiten Teilen der Welt hauptsächlich ländlich waren.


Herr Professor Guinnane, vielen Dank für das Gespräch!

Timothy Guinnane ist emeritierter Philip Golden Bartlett Professor für Wirtschaftsgeschichte an der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften der Yale Universität in New Haven, Connecticut, USA. Sein Forschungsschwerpunkt liegt in der Wirtschaftsgeschichte, insbesondere der demografischen und finanzwirtschaftlichen Geschichte Westeuropas mit einem besonderen Fokus auf dem Sozialversicherungs- und Genossenschaftswesen. Guinnane ist Hauptautor des Buchs „Die Geschichte der DZ BANK. Das genossenschaftliche Zentralbankwesen vom 19. Jahrhundert bis heute“, das 2013 im C.H. Beck-Verlag erschienen ist. Die Interviewfragen beantwortete er auf Deutsch.

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