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Wir leben in einer Zeit des Umbruchs. Zu den zahlreichen Herausforderungen zählen der Klimawandel, der demografische Wandel, das ungelöste Problem der Rentenfinanzierung oder der massive Wohnraummangel. Auch die Genossenschaftsidee hat sich in einer Zeit des Umbruchs entwickelt, während der Industrialisierung in Europa, als sich die soziale Frage stellte.

Die Herausforderungen damals waren ein kräftiger Bevölkerungsanstieg, Armut, Hungersnöte und Wohnungsmangel in den stark wachsenden Städten. In England entstanden erste Konsumgenossenschaften, die die Lebensmittelversorgung der Arbeiter organisierten. In Deutschland waren es vor allem Handwerkergenossenschaften und Genossenschaftsbanken, die maßgeblich von Hermann Schulze-Delitzsch geprägt wurden, sowie ländliche Genossenschaften, die von Friedrich Wilhelm Raiffeisen und später vor allem von Wilhelm Haas und ihren Verbänden vorangetrieben wurden. Außerdem entstanden Wohnungsgenossenschaften, die ihren Mitgliedern dauerhaft günstigen Wohnraum bereitstellten.

Diese frühen Genossenschaftsmodelle erwiesen sich als erfolgreich und sie wurden in Deutschland, Europa und der Welt in hoher Zahl nachgeahmt. Zu den wichtigsten Verdiensten dieser ersten Generation von Genossenschaften zählen der Zugang breiter Bevölkerungsschichten zu Krediten und Finanzdienstleistungen, die Versorgung der Landwirtschaft mit günstigem Kunstdünger, der stabil gute Ernten ermöglichte, sowie der Bau und die Vermietung von dringend benötigten Wohnungen.

Bericht 2024

Dieser Text ist eine gekürzte Fassung des Beitrags „Neue Perspektiven für die Genossenschaftsidee“ von Michael Stappel, erschienen im Genossenschaftsbericht 2024 „Die deutschen Genossenschaften 2024. Entwicklungen – Meinungen – Zahlen“. Den Genossenschaftsbericht 2024 gibt es im DG Medienportal von DG Nexolution sowie im Buchhandel.

Doch die Genossenschaftsidee unterliegt einem ständigen Wandel durch technischen Fortschritt, sich ändernden Verbraucherwünschen oder neue rechtliche Rahmenbedingungen. Dadurch verschwinden ältere Betätigungsfelder, wie beispielsweise Schuhmacher- oder Kalthausgenossenschaften, und neue Genossenschaftsmodelle entstehen, wie Photovoltaikgenossenschaften oder IT-Genossenschaften. Allerdings herrschte in Deutschland lange Zeit weitgehend Stillstand. So gab es in den 1970er- bis 1990er-Jahren kaum Genossenschaftsgründungen und vor allem wurden keine neuen Genossenschaftsmodelle entwickelt, sodass die Zahl genossenschaftlicher Unternehmen immer weiter schrumpfte und die Genossenschaftsorganisation an Bedeutung verlor.

2000er-Genossenschaften

Erst mit einer gründungsfreundlichen Reform des Genossenschaftsgesetzes und einer Neugründungsoffensive wichtiger Genossenschaftsverbände kam es zur Kehrtwende. Anfang der 2000er-Jahre setzte eine Neugründungswelle ein, die den Genossenschaftsrückgang durch Auflösungen und Fusionen kompensierte und die Zahl selbstständiger Genossenschaften weitgehend stabilisierte. Vor allem aber entstanden wieder neue Genossenschaftsmodelle, etwa Nahwärmenetze, Ärztegenossenschaften, Mehrgenerationenhäuser oder Energiegenossenschaften. Andere Genossenschaftsarten erfuhren eine Renaissance, wie die Konsumgenossenschaft in Form von Dorfläden. Diese neue Generation von Genossenschaften, die nach der Jahrtausendwende entstanden sind, die neue Betätigungsfelder erschlossen haben und die für den jüngsten Neugründungsboom stehen, lassen sich als „2000er-Genossenschaften“ zusammenfassen.

Tatsächlich wurde die Neugründungswelle, die in 15 Jahren über 3.000 neue Genossenschaften in Deutschland hervorgebracht hat, vor allem von Gründungen rund ums Thema erneuerbare Energien und von Ärztegenossenschaften getragen. Mit der nachlassenden Förderung erneuerbarer Energien und einer weitgehenden Marktsättigung bei Ärztegenossenschaften nahm die Zahl der Neugründungen dann wieder ab. Insgesamt hat sich das Neugründungsgeschehen aber auf einem deutlich höheren Niveau eingependelt und aktuell, also kurz vor dem Start ins Internationale Genossenschaftsjahr 2025, nehmen die Neugründungen wieder zu.

Das bevorstehende Internationale Genossenschaftsjahr soll Anlass sein, die Potenziale der Genossenschaftsidee im Hinblick auf die eingangs erwähnten Herausforderungen zu erforschen: Welche Chancen ergeben sich für neue Genossenschaften durch die ökologischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und sozialen Veränderungen unserer Zeit? Was kann die Genossenschaftsidee zur Bewältigung der mit dem Umbruch verbundenen Probleme beitragen?

Charakteristische Merkmale von Genossenschaften

Doch was sind die charakteristischen Merkmale von Genossenschaften, die sie besonders machen und für die Lösung bestimmter Probleme prädestinieren? Genossenschaften sind in aller erster Linie Selbsthilfeeinrichtungen. Menschen oder Betriebe schließen sich freiwillig in einer Genossenschaft zusammen (Freiwilligkeitsprinzip), weil sie bestimmte Ziele gemeinsam besser erreichen können als einzeln. Allerdings werden nur ausgewählte Aufgaben, die den Mitgliedern Vorteile verschaffen, auf die Genossenschaft übertragen. Ansonsten behalten die Genossenschaftsmitglieder ihre Unabhängigkeit (Subsidiaritätsprinzip).

Im Gegensatz zur Kapitalgesellschaft ist der Unternehmenszweck der eingetragenen Genossenschaft nicht die Gewinnmaximierung oder die Steigerung des Shareholder Values, sondern die wirtschaftliche, soziale oder kulturelle Förderung ihrer Mitglieder (genossenschaftlicher Förderauftrag). Im Fall der Waren- und Dienstleistungsgenossenschaften sind die Mitglieder Eigentümer und gleichzeitig auch Geschäftspartner, das heißt Lieferant oder Kunde der Genossenschaft. Dies führt oft zu einer starken Verankerung in der Region und enger Kundennähe.

Im Falle der Produktivgenossenschaften sind die Mitglieder Eigentümer und zugleich Mitarbeiter ihrer Genossenschaft. Dadurch können Interessenkonflikte, die zum Beispiel zwischen Arbeitnehmern und Aktionären einer Aktiengesellschaft bestehen, vermieden werden (Identitätsprinzip). Kennzeichnend für Genossenschaften ist zudem ihr demokratischer Charakter: Die Stimmrechte der Mitglieder bemessen sich nicht nach deren Kapitalanteilen, sondern nach der Grundregel je Mitglied eine Stimme (Demokratieprinzip).

Genossenschaftsprinzipien

  • Genossenschaftlicher Förderauftrag: Unternehmenszweck einer Genossenschaft ist nicht die Gewinnmaximierung, sondern die wirtschaftliche, soziale oder kulturelle Förderung der Mitglieder.
  • Demokratieprinzip: In Mitglieder- oder Vertreterversammlungen von Genossenschaften wird in der Regel nicht nach Kapitalanteilen abgestimmt, sondern nach der Grundregel: je Mitglied eine Stimme.
  • Identitätsprinzip: Genossenschaften folgen der Idee der Selbsthilfeeinrichtung. Dementsprechend sind Mitglieder Eigentümer und Kunde (beziehungsweise Mitarbeiter) der Genossenschaft zugleich.
  • Freiwilligkeitsprinzip: Die Mitgliedschaft in einer Genossenschaft und die geschäftlichen Beziehungen zur Genossenschaft beruhen auf Freiwilligkeit.
  • Subsidiaritätsprinzip: Es werden nur Aufgaben auf die Genossenschaft übertragen, die gemeinsam effizienter erfüllt werden als einzeln. Die Genossenschaft hat eine dienende Rolle für ihre Mitglieder.

Diese von den Genossenschaftswissenschaften herausgearbeiteten, relativ abstrakten Genossenschaftsprinzipien lassen sich gut am Beispiel der im Sport-Fachgroßhandel tätigen Intersport-Genossenschaft verdeutlichen: Sportartikel-Einzelhändler treten der Genossenschaft bei und übertragen die Warenbeschaffung auf sie. Nur so können sie überhaupt den Einkauf aller benötigten Waren sicherstellen und durch die großen Mengen des gemeinsamen Einkaufs auch günstigere Konditionen erzielen als einzeln. Ansonsten bleiben die Einzelhändler aber weitgehend unabhängig und selbständig in ihren unternehmerischen Entscheidungen.

Hinweise aus der Neugründungsstatistik

Anhaltspunkte, welche Genossenschaftsmodelle aufgrund der charakteristischen Merkmale der Rechtsform eG besondere Vorteile bei aktuellen Herausforderungen bieten, liefert die Neugründungsstatistik im Zeitraum von 2005 bis Mitte 2024.

Ärztegenossenschaften (136 Neugründungen)

Viele Ärztegenossenschaften wurden zum Zweck der Lobbyarbeit gegründet. Häufig schließen sich aber auch Ärzte, Psychologen oder Fachmediziner zusammen, um bestimmte Funktionen effizienter wahrnehmen zu können, zum Beispiel den Betrieb eines Gemeinschaftslabors, die Anschaffung teurer Geräte oder die Entwicklung spezieller Software. Vor dem Hintergrund der zunehmend angespannten Lage bei Gesundheitsversorgung und Pflege können Ärztegenossenschaften mit Gemeinschaftseinrichtungen einen Beitrag zur Effizienzsteigerung leisten.

Genossenschaftliche Gesundheitsnetze (17)

Gesundheitsnetze sind ein Konzept, um den Problemen der Gesundheitsversorgung vor allem auf dem von Abwanderung bedrohten Land zu begegnen. Häufig finden Hausärzte keine Nachfolge, weil Mediziner den hohen Verwaltungsaufwand einer eigenen Praxis scheuen und mit wenig flexiblen Arbeitszeiten konfrontiert sind. Genossenschaftliche Gesundheitsnetze können Ärzte bei Verwaltungsaufgaben entlasten und ermöglichen in Gemeinschaft mit anderen Ärztinnen und Ärzten eine flexiblere Arbeitszeitgestaltung oder auch Teilzeittätigkeiten. Im ländlichen Raum bilden sie einen Beitrag für eine stabile medizinische Versorgung.

Genossenschaftliche Nahwärmenetze (152)

Nahwärmenetze existieren vor allem im ländlichen Raum. Hausbesitzer als Wärmeabnehmer und Landwirte als Energielieferanten schließen sich in der eG zusammen, die die vorwiegend mit Holz oder Biogas betriebene Heizanlage sowie das Nahwärmenetz errichtet und betreibt. Neben der Unabhängigkeit und einer umweltfreundlichen Energieversorgung spielen auch Transparenz bei Kosten und Preisen eine Rolle sowie die demokratische Kontrolle durch die Mitglieder. Das macht genossenschaftliche Nahwärmenetze gerade vor dem Hintergrund der kommunalen Wärmeplanung auch im urbanen Raum interessant.

Energiegenossenschaften (981)

Bürger, Vereine und Unternehmen betreiben gemeinsam Stromerzeugungsanlagen, die erneuerbare Energien nutzen. Teilweise beteiligen sich die Genossenschaften an anderen Energieprojekten. Die verbreitetste Form ist die Photovoltaikgenossenschaft, die eine Mitwirkung an der Energiewende erlaubt, auch ohne eigenes Hausdach, ohne Fachkenntnisse und mit nur kleinen Beträgen. Weniger verbreitet sind Windkraftgenossenschaften aufgrund hoher Investitionen. Außerdem engagieren sich viel Energiegenossenschaften in der Beratung. Energiegenossenschaften leisten einen wichtigen Betrag zur Akzeptanz der Energiewende.

Bioenergiedörfer (25)

Dorfbewohner (als Abnehmer), Landwirte und Waldbesitzer (als Energielieferanten), Vereine und ggf. die Kommune schließen sich in einer Genossenschaft zusammen, um die gemeinsame autarke Energieversorgung und -verteilung des gesamten Dorfes mit Heizenergie, Warmwasser und ggf. Strom sicherzustellen. Die Vorteile bestehen in einer sicheren, autarken Energieversorgung auf Basis erneuerbarer Energien, Kostentransparenz und demokratischer Kontrolle. Außerdem bleibt ein erheblicher Teil der Wertschöpfung in der Region, anders als beim Heizen mit Öl oder Gas oder bei Strom aus großen Kraftwerken.

Genossenschaftliche Dorfläden (110)

Dorfbewohner als Verbraucher, Vereine, Sozialeinrichtungen und ggf. die Kommune betreiben gemeinsam ein Lebensmittelgeschäft, um die Nahversorgung vor Ort zu sichern. Zum Teil treten auch Landwirte als Lieferanten für frische, regionale Lebensmittel auf. Häufig geht die Funktion der Dorfläden über die reine Nahversorgung hinaus, indem sie zum sozialen Treffpunkt im Dorf werden und beispielsweise auch Kaffee und Kuchen anbieten.

Genossenschaftliche Gaststätten (49)

Einen ähnlichen Ansatz verfolgen genossenschaftliche Gaststätten. Gaststättengenossenschaften werden oft dann gegründet, wenn Traditionsgasthäuser im ländlichen Raum vor der Schließung stehen, weil die Betreiber keine Nachfolger finden. Mitglieder der Genossenschaft sind vor allem die Gaststättenbesucher und andere Bewohner, die den Gaststättenbetrieb dann über einen ehrenamtlichen Mitgliederdienst oder angestellte Gastleute sicherstellen. Den meisten Genossenschaften geht es nicht nur um den Erhalt eines Restaurants, sondern auch um die Funktion der Dorfgaststätte als sozialer Treffpunkt in der Gemeinde.

Genossenschaftliche Bäder/Schulen/Wasserversorgung (11/25/15)

Die Nutzer kommunaler Einrichtungen, die von der Schließung bedroht sind, übernehmen diese in genossenschaftlicher Selbsthilfe, häufig mit hohem ehrenamtlichem Engagement in Kooperation mit Vereinen. Ähnlich wie bei Dorfläden oder Gaststättengenossenschaften geht es dabei vor allem auch um die örtliche Nahversorgung. Häufig kommt es zur Genossenschaftsgründung, wenn der kommunale Betrieb mit steigenden Defiziten konfrontiert ist. Bei genossenschaftlichen Schulen spielen oft auch alternative pädagogische Ansätze für die Gründung eine wichtige Rolle.

Familiengenossenschaften (8)

Kleine und mittelständische Unternehmen betreiben gemeinsam eine Genossenschaft, die den Arbeitnehmern der Unternehmen betriebliche Sozialleistungen, wie Kindergartenplätze oder Unterstützung bei der Pflege von Angehörigen bereitstellen, die sonst nur Großunternehmen bieten. Für die Unternehmen verbessert sich die Arbeitgeberattraktivität. Für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit Kindern verbessert sich die Betreuungssituation in einer Zeit, in der Kindergartenplätze ohnehin knapp sind. Allerdings stehen die Genossenschaften selbst vor der Herausforderung des Fachkräftemangels bei Erziehungsberufen.

Wohnungsgenossenschaften (399)

Traditionelle Wohnungsgenossenschaften sind zwar kein neues Genossenschaftsmodell. Allerdings erfährt die Idee, gemeinschaftlich kostengünstigen und kündigungssicheren Wohnraum zu schaffen, vor dem Hintergrund des anhaltenden Wohnraummangels eine Renaissance. Oft wird der genossenschaftliche Förderauftrag um neue Aspekte ergänzt, wie generationenübergreifendes Wohnen und gegenseitige Unterstützung oder die Verbindung von Wohnen und Arbeiten unter einem Dach. Eine große Hürde sind jedoch die hohen Investitionen. Aktuell kommen noch gestiegene Zinsen und hohe Baukosten erschwerend hinzu.

Bisher kaum gehobene Potenziale

Trotz der beachtlichen Erfolge wird das Problemlösungspotenzial der Genossenschaftsidee in Deutschland in vielen Bereichen bisher noch unzureichend genutzt. Das betrifft Genossenschaftsmodelle, die bereits existieren, die bisher aber noch relativ wenig Verbreitung in der Praxis finden. Hierzu zählen beispielsweise genossenschaftliche Gesundheitsnetze, Nahwärmegenossenschaften, Bioenergiedörfer oder Familiengenossenschaften.

„Trotz der beachtlichen Erfolge wird das Problemlösungspotenzial der Genossenschaftsidee in Deutschland in vielen Bereichen bisher noch unzureichend genutzt.“

Ein weiterer Bereich, in dem das Problemlösungspotenzial der Genossenschaft bisher kaum genutzt wird, ist die vor dem Hintergrund des demografischen Wandels stark wachsende Nachfolgeproblematik. Immer häufiger werden rentable Betriebe aufgegeben, weil sich kein Nachfolger findet. Aus gesamtwirtschaftlicher Sicht ist das unproblematisch, wenn Konkurrenten die Nachfrage auffangen und dadurch schneller wachsen. Im Handwerk besteht jedoch das Problem, dass vor allem im Bau- und Ausbaugewerbe Kapazitäten ersatzlos wegbrechen. Hier könnte die Gründung einer Produktivgenossenschaft einen Ausweg bieten.

Wenn ein Handwerksbetrieb beim absehbaren Renteneintritt des Meisters keinen Nachfolger findet, besteht die Möglichkeit, frühzeitig eine Genossenschaft zu gründen, der die Mitarbeiter des Handwerksbetriebs beitreten und die nach und nach Genossenschaftsanteile auffüllen. Wenn der Meister dann in Ruhestand geht, kann die Genossenschaft als Produktivgenossenschaft den Handwerksbetrieb übernehmen und fortführen. Das Genossenschaftsmodell bietet zudem die Flexibilität, dass sich der bisherige Inhaber immer mehr mit seiner Arbeitsleistung und seinen Genossenschaftsanteilen zurückzieht und die unternehmerische Verantwortung der Mitarbeiter sukzessive wächst.

Etwas Ähnliches ist in der Landwirtschaft denkbar. So besteht die Möglichkeit, eine landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft zu gründen, der Landwirte beziehungsweise deren Erben beitreten. Die Genossenschaft pachtet dann Felder und Betriebseinrichtungen von den Mitgliedern und übernimmt deren Produktion, wenn die Bauern in Ruhestand gehen. Hierzu können neue Genossenschaften gegründet werden. Es ist aber auch denkbar, dass landwirtschaftliche Bezugs- und Absatzgenossenschaften ihr Aufgabenspektrum um die landwirtschaftliche Urproduktion erweitern. Das skizzierte Modell entspricht dem der Agrargenossenschaften, die in den neuen Bundesländern durch Umwandlung früherer Landwirtschaftlicher Produktionsgenossenschaften (LPG) in marktwirtschaftliche Genossenschaften (eG) entstanden sind.

Hebung des vollen Potenzials

Genossenschaften sind zwar kein Universalinstrument, mit dem sich allen eingangs erwähnten Herausforderungen begegnen lässt. Aber im Hinblick auf bestimmte Problemlagen haben Genossenschaften entscheidende Vorteile, die aus den Besonderheiten der Genossenschaftsidee resultieren. Zu nennen sind hier charakteristische Merkmale wie Selbsthilfe, Demokratie, Regionalität oder Subsidiarität. Keine andere Wirtschafts- und Unternehmensform verbindet solche Eigenschaften. Das macht sie einmalig und sorgt bei bestimmten Herausforderungen für Vorteile gegenüber anderen Lösungsansätzen. Die Auswertung der Neugründungsstatistik zeigt, dass hierzu bereits eine ganze Reihe neuer Genossenschaftsmodelle entwickelt, erfolgreich in der Praxis umgesetzt und vielfach nachgeahmt wurden. Andere, vielversprechende Genossenschaftsmodelle erfahren jedoch kaum Nachahmung und wieder andere gelangen nicht einmal in den Praxistest.

„Nur wenn potenzielle Gründer die genossenschaftliche Rechtsform und praxistaugliche Genossenschaftsmodelle überhaupt kennen, kommt es auch zu Neugründungen.“

Um das volle Potenzial der Genossenschaftsidee zu heben, gilt es, die Rahmenbedingungen für Neugründungen weiter zu verbessern. Die im Juli 2024 vom Gesetzgeber vorgelegten Pläne zur Novellierung des Genossenschaftsgesetzes gehen in diese Richtung. Darin geht es um die Möglichkeit eines digitalen Beitritts der Mitglieder, Maßnahmen zur Beschleunigung des Registereintrags bei Neugründungen oder mehr Rechtssicherheit, wenn sich beispielsweise Energiegenossenschaften an einem Windrad in ihrer Region beteiligen.

Eine entscheidende Rolle wird aber weiterhin die aktive Vermarktung der Genossenschaftsidee spielen. Nur wenn potenzielle Gründer die genossenschaftliche Rechtsform und praxistaugliche Genossenschaftsmodelle überhaupt kennen, kommt es auch zu Neugründungen. Die Entwicklung neuer Genossenschaftsmodelle und das Werben für die Genossenschaftsidee bleiben eine Daueraufgabe. Das bevorstehende Internationale Jahr der Genossenschaften 2025 kann dabei eine wertvolle Unterstützung sein.
 

Michael Stappel ist Volkswirt sowie Leiter Makroökonomik/Branchenresearch bei der DZ Bank. Zu seinem Profil auf LinkedIn.

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