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Seit dem Jahr 2015 verfolgt die Europäische Kommission das Ziel einer Kapitalmarktunion. Damit soll Europa einen einheitlichen Kapitalmarkt erhalten, der Unternehmen eine weitere Möglichkeit eröffnet, sich mit Kapital zu versorgen. Mit der Covid-19-Krise hat das Vorhaben neuen Rückenwind erhalten. Nachdem die Umsetzung der Kapitalmarktunion in den vergangenen Jahren eher schleppend vorangekommen ist, hat EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen Ende September dem Projekt neuen Schwung verliehen. Allerdings verkennt sie dabei die Bedeutung klassischer Bankkredite und dreht damit aus Sicht des deutschen Mittelstands an den falschen Stellschrauben.

Das Anliegen der Kommission klingt auf den ersten Blick einleuchtend. Als weitere Finanzierungsquelle sollen Unternehmen die Möglichkeit erhalten, sich auf einem europaweiten Kapitalmarkt mit Geld zu versorgen. Grenzüberscheitend soll der Zugang für Unternehmen und Investoren erleichtert werden, um die Wettbewerbsfähigkeit in Europa zu stärken und den Erholungskurs in der Corona-Pandemie zu beschleunigen.

So weit, so gut. Der Kapitalmarkt kann für einige mittelständische Unternehmen eine sinnvolle Ergänzung sein, um Projekte, Investitionen und damit Wachstum sowie Innovation zu finanzieren. Diesen Weg der Mittelbeschaffung auf eine europaweit einheitliche Grundlage zu stellen, ist erstrebenswert, ebenso der Abbau von Zugangshemmnissen.

Allerdings ist das Vorgehen nicht stimmig. So will die EU-Behörde die Unternehmensfinanzierung erleichtern, indem sie mit der Kapitalmarktunion Alternativen zum klassischen Bankkredit schafft. Zugleich aber macht sie mit Regulierungsvorschriften und immer höheren Eigenkapitalanforderungen den Banken das Leben schwer. Für Banken wird es dadurch deutlich schwerer, Mittelständler, die in besonderem Maße auf die Kreditfinanzierung setzen, mit Krediten zu versorgen. Anstatt dieses Ungleichgewicht zu korrigieren, propagiert die Brüsseler Mega-Behörde nun den Kapitalmarkt, der das ausgleichen soll, was man Banken an anderer Stelle ohne Not nimmt.

„Nach wie vor stellt der klassische Bankkredit die mit Abstand wichtigste Kapitalquelle für die mittelständische Wirtschaft dar.“

Bei allem Eifer, mit der Kapitalmarktunion die europäische Integration zu stärken, sollte nicht aus dem Blick geraten, wie wichtig Bankkredite insbesondere für die mittelständische Wirtschaft sind, die Bayern und Deutschland maßgeblich prägt. Nach wie vor stellt der klassische Bankkredit die mit Abstand wichtigste Kapitalquelle für die mittelständische Wirtschaft dar, zu der Handwerksbetriebe und viele Unternehmen mit weniger als 500 Beschäftigten zählen. Der deutsche Mittelstand finanzierte sich im Jahr 2018 nach Angaben des KfW-Mittelstandspanels zu 45 Prozent aus Eigenmitteln, 34 Prozent entfielen auf Bankkredite und 15 Prozent auf Fördermittel. Nur sechs Prozent kamen aus weiteren Quellen wie dem Kapitalmarkt. In den USA sind die Verhältnisse umgekehrt. Dort kommt der Kapitalmarktfinanzierung eine deutlich höhere Bedeutung zu. Gleichzeitig ist der Mittelstand dort weit weniger ausgeprägt und trifft auf eine gänzlich andere, von Großinstituten dominierte Bankenlandschaft.

Erst ab einem Finanzierungsbedarf in zweistelliger Millionenhöhe lohnt sich in der Regel der Zugriff auf Kapitalmarktinstrumente. Der „normale“ Firmenkredit hat ein wesentlich kleineres Volumen. Im Jahr 2019 betrug die durchschnittliche Höhe der Kredite, die die bayerischen Volksbanken und Raiffeisenbanken an ihre Firmenkunden ausgereicht haben, 191.000 Euro. Diese Ausgangslage wird sich auch künftig für die überwiegende Mehrzahl der Betriebe kaum ändern. Ein erleichterter Zugriff auf den Kapitalmarkt kann als zusätzliche Finanzierungsmöglichkeit für den oberen Mittelstand sinnvoll sein. Allerdings nicht, um vermeintlich bestehende Lücken in der Finanzversorgung mittelständischer Unternehmen in der Breite zu füllen. Denn für den Mittelstand ist der Weg zum Kapitalmarkt – trotz der vorgesehenen Erleichterungen – aufgrund der geringen Losgrößen einfach nicht zweckmäßig.

„Der unmittelbare Kontakt zur regional ausgerichteten Hausbank hat in hohem Maße dazu beigetragen, die Folgen der Krise zu dämpfen.“

Hinzu kommt ein weiterer Aspekt: Eine Kreditklemme oder anderweitiger mangelnder Zugriff auf Finanzierungen, ist nirgendwo zu erkennen. Die Corona-Krise hat gleich mehrfach belegt: Eine mangelnde Kreditversorgung der Unternehmen gab es selbst in dieser schwierigen Phase nicht. Der unmittelbare Kontakt zur regional ausgerichteten Hausbank hat in hohem Maße dazu beigetragen, die Folgen der Krise zu dämpfen, durch Beratung, Kreditversorgung und die Vermittlung von Förderkrediten. Mit reinen Kapitalmarktinstrumenten wäre es kaum gelungen, die mittelständischen Betriebe schnell, unkompliziert und umfassend mit Liquidität zu versorgen und je nach individuellem Bedürfnis maßgeschneiderte Angebote zu machen: sei es ein klassischer Bankkredit, sei es die Vermittlung von Förderkrediten oder sei es die Stundung von Tilgungsraten bereits laufender Kredite.

„Die Vergabe von Bankkrediten durch ständig neue Regulierungsauflagen künstlich zu erschweren und dann als Ausweg nach einer Kapitalmarktunion zu rufen, ist inkonsequent.“

Statt ausschließlich nach neuen Wegen für die Unternehmensfinanzierung zu suchen, wäre kritisch zu prüfen, wie man die bewährten Instrumente dauerhaft stärken kann – beispielsweise, indem man die regionalen Finanzinstitute von überbordender Regulierung entlastet. Das richtige Gleichgewicht in der Regulierung zwischen Kreditmarkt- und Bankkreditinstrumenten ist entscheidend. Die Vergabe von Bankkrediten durch ständig neue Regulierungsauflagen künstlich zu erschweren und dann als Ausweg nach einer Kapitalmarktunion zu rufen, ist inkonsequent. Hier versucht man, auf europäischer Ebene ein Problem zu lösen, das man vorher an anderer Stelle durch europäische Auflagen erst geschaffen hat.

Ein weiterer Widerspruch zeigt sich in der geplanten Verpflichtung für Banken, potenzielle Kreditnehmer, deren Antrag abgelehnt wurde, auf alternative Anbieter auf dem Kapitalmarkt zu verweisen. Denn Ziel ist doch eigentlich ein stabiler Finanzsektor und eine verlässliche Kreditversorgung der Wirtschaft. Dafür ist eine gründliche Kreditprüfung entscheidend. Kredite werden in der Regel nicht abgelehnt, weil die Bank den Kredit nicht vergeben kann, sondern weil der potenzielle Kreditnehmer nicht hinreichend kreditwürdig ist. Sei es aufgrund mangelnder Eigenkapitalausstattung, sei es aufgrund eines nicht zukunftsfesten Geschäftsmodells. Und diese Anfragen sollen die Banken nun an andere Anbieter weitervermitteln? Das kann in letzter Konsequenz dazu führen, dass sich im Schattenbankenbereich, der weit weniger reguliert ist als die Banken, Risiken bündeln und so lange unentdeckt bleiben, bis es zu spät ist.

Die Erfahrung mit dem ersten Kapitalmarkt-Aktionsplan zeigt ein weiteres Problem: Die Umsetzung der Brüsseler Pläne wird sehr lange dauern. Nur weil etwas in einem ambitionierten Kommissionspapier steht, ist es noch längst nicht umgesetzt. Ob die von von der Leyen vorgestellten Maßnahmen also Unternehmen helfen, die gerade dabei sind, die Folgen der Corona-Krise zu verdauen – eines der erklärten Ziele der EU-Kommission –, ist fraglich. Was dagegen schnell, zielgenau und regional helfen würde, wären nationale Maßnahmen wie zum Beispiel die Ausweitung des steuerlichen Verlustvortrags. Dies würde die Eigenkapitalausstattung der Unternehmen stärken und ihnen damit wiederum den Zugang zu Fremdkapitalfinanzierungen erleichtern. Auch eine Ausweitung staatlicher Förderprogramme um eigenkapitalwirksame Instrumente kann helfen, die Kapitalpolster bei besonders stark betroffenen Unternehmen weiter aufzubessern.

„In den vergangenen Monaten hat sich gezeigt, wie leistungsfähig das bewährte System der bankengetragenen Unternehmensfinanzierung ist.“

Zur Unternehmensfinanzierung mag es viele Wege geben. Diese können auch innovativ sein und regional vor Ort viel bewirken, ohne gleich das ganz große europäische Rad zu drehen. Mit Modellen wie der VR Crowd, bei denen Privatanleger unter Vermittlung der Bank in Unternehmensvorhaben investieren können, beweisen bayerische Volksbanken und Raiffeisenbanken, dass sie über das digitale Know-how verfügen, ausgetretene Pfade zu verlassen. Auch das hilft Unternehmen, ihr Eigenkapital zu steigern und damit Voraussetzungen für Kredite zu schaffen, die sie sonst nicht oder nur zu erschwerten Bedingungen erhalten hätten.

In den vergangenen Monaten hat sich gezeigt, wie leistungsfähig das bewährte System der bankengetragenen Unternehmensfinanzierung ist. Hierzu kann ein europäischer Kapitalmarkt eine Ergänzung darstellen. Ablösen kann er dieses System aber nicht – jedenfalls dann nicht, wenn weiter Konsens darüber besteht, dass die mittelständischen Unternehmen die tragende Säule der deutschen Wirtschaft sind.


Dr. Jürgen Gros ist Präsident des Genossenschaftsverbands Bayern (GVB). Er twittert als @JGros_GVB und ist Mitglied des Netzwerks LinkedIn.

Dieser Artikel ist am 28. Oktober 2020 in ähnlicher Form in der Börsen-Zeitung erschienen.

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