Dorfheizung: Mit vereinten Kräften haben die Einwohner von Hagau im Donau-Ries ein Nahwärmesystem errichtet. Sie liefern damit ein Musterbeispiel für genossenschaftliche Selbsthilfe im ländlichen Raum.
Hugo Wirthensohn lebt seit langer Zeit umweltbewusst. In seinem Haus, das er zusammen mit seiner Frau bewohnt, hat der Förster und Oberallgäuer Kreisrat bereits im Jahr 2000 die Ölheizung gegen eine Pelletheizung ausgetauscht – „die erste Pelletheizung im Ort“, wie er erzählt. Auch eine Photovoltaik-Anlage kam damals auf das Dach, zu einer Zeit also, als es noch keine EEG-Förderung gab. Seither hat er das Gebäude mehrfach energetisch saniert und beispielsweise mit recyclebarem Dämmmaterial isoliert sowie neue Holz-Alu-Fenster eingebaut. Im vergangenen Jahr ersetzte er zudem die 20 Jahre alte PV-Anlage.
Der engagierte Kreisrat hört jedoch nicht bei seinem eigenen Haus auf, sondern denkt das Thema Umwelt- und Klimaschutz größer. „Ich möchte mithelfen bei der Transformation zu einer Gesellschaft, die ohne fossile Brennstoffe auskommt“, sagt er. Deshalb engagiert er sich als Erster Vorstand bei der BürgerEnergie-Genossenschaft Altusried eG (BEGA). Der rund 5.400 Einwohnerinnen und Einwohner zählende Ort liegt im Allgäu rund 15 Kilometer nördlich von Kempten. Die Genossenschaft möchte in Altusried ein Nahwärmenetz errichten. Ziel ist es, Wohnungen und öffentliche Gebäude im Ort mit erneuerbarer Wärme zu heizen.
Neue Gebäude im Ortszentrum klimafreundlich heizen
Der Anstoß zur Gründung der Genossenschaft kam aus zwei Richtungen. Erstens durch einen Bürgerverein, den Hugo Wirthensohn 2018 gegründet hat. Dort engagieren sich Menschen aus der Region, um die Energiewende voranzutreiben. 2020 bildete sich aus dem Bürgerverein ein Arbeitskreis, der Möglichkeiten auslotete, ein Nahwärmenetz aufzubauen. Zweitens durch den Bürgermeister Joachim Konrad. Denn im Zentrum von Altusried entsteht derzeit ein neues Rathaus sowie die Seniorenanlage „Postresidenz“. Beide sollen klimafreundlich geheizt werden. Da der Bürgermeister von den Plänen des Bürgervereins wusste, kam er auf ihn zu und schlug vor, die Kräfte zu bündeln und eine Genossenschaft zu gründen. „Damit hat er bei uns offene Türen eingerannt“, betont Wirthensohn. Gemeinsam trieben sie das Projekt weiter voran und gründeten schließlich am 17. Februar 2022 die BEGA eG. Neben Privatpersonen ist auch die Marktgemeinde selbst Mitglied.
Interesse an Genossenschaft zuletzt extrem gestiegen
Die Entscheidung für ein genossenschaftliches Nahwärmenetz ist somit bereits vor dem russischen Angriff auf die Ukraine gefallen. Doch seit Beginn der Kampfhandlungen am 24. Februar registriert Wirthensohn ein extrem hohes Interesse der Bevölkerung. „Die Nachfrage war schon vorher da. Doch seit dem Krieg ist das Projekt ein Selbstläufer. Viele Menschen möchten mithilfe der Genossenschaft autark heizen, also unabhängig von Öl und Gas“, erklärt er. Das belegen auch die Zahlen: Gegründet wurde die Genossenschaft von 16 Mitgliedern, mittlerweile sind 140 Haushalte dabei. Wirthensohn rechnet mit weiteren Zugängen, wenn er in Kürze auf die Hausbesitzer zugeht.
Dritte Gründungswelle bei Energiegenossenschaften
Die Gründung der BEGA hat Max Riedl vom Genossenschaftsverband Bayern (GVB) eng begleitet. Er registriert derzeit eine starke Nachfrage nach genossenschaftlich organisierten Nahwärmenetzen. „Wir stehen vor einer dritten Gründungswelle bei Energiegenossenschaften“, betont der GVB-Experte.
In einer ersten Gründungswelle von Energiegenossenschaften zwischen 2007 und 2013 ging es den Initiatoren in erster Linie darum, die Energiewende voranzutreiben. Dazu bauten sie vor allem Photovoltaik-Anlagen. Durch die EEG-Einspeisevergütung rechnete sich das auch finanziell. In der zweiten Gründungswelle ab 2017 standen hauptsächlich Nahwärmegenossenschaften im Fokus. Die Gründer wollten mit erneuerbaren Energien heizen und Kosten sparen. Angesichts der hohen Ölpreise amortisieren sich die Nahwärmenetze vergleichsweise schnell.
Bei der jetzt anlaufenden dritten Gründungswelle steht für die Initiatoren weiterhin die Energiewende im Vordergrund. Doch zusätzlich treibt die Menschen an, sich unabhängig von fossilen Brennstoffen aus Drittstaaten zu machen. Vielen Menschen ist bewusst geworden, dass die Zeiten billiger Öl- und Gaslieferungen aus der Ferne wohl ein für alle Mal vorbei sind. Deshalb nehmen sie die Energieversorgung selbst in die Hand. Ihr Handeln steht damit in der jahrhundertealten Tradition der genossenschaftlichen Hilfe zur Selbsthilfe (siehe auch GVB-Pressemeldung).
Zehn Gründe für ein genossenschaftliches Nahwärmenetz
Warum bietet sich die Rechtsform Genossenschaft für den Bau eines Nahwärmenetzes besonders an? Im Beitrag „Wärme für ein ganzes Dorf“ hat „Profil“ die zehn wichtigsten Punkte zusammengefasst.
Noch zwei Winter mit Öl und Gas überstehen
Da die Nahwärmegenossenschaft in Altusried bereits vor Beginn des Ukraine-Kriegs gegründet wurde, sind die Pläne für das Nahwärmenetz weit fortgeschritten. Als Standort für die Nahwärmezentrale, die mit Hackschnitzeln betrieben werden soll, steht eine Fläche gegenüber dem Bauhof im südwestlichen Teil des Orts fest. Hugo Wirthensohn hofft, noch in diesem Jahr die Planungen und das Genehmigungsverfahren für das Nahwärmenetz abzuschließen. Dann könnten die Bauarbeiten im Februar 2023 starten. Er rechnet damit, dass ein Großteil der Leitungen im Laufe des kommenden Jahres verlegt werden. Die Nahwärmezentrale wird wegen der aktuellen Lieferengpässe aber wohl erst 2024 fertiggestellt. „Wir werden noch zwei Winter mit Öl und Gas überstehen müssen. Danach heizen wir unabhängig“, sagt Wirthensohn.
Genossenschaft gründen
Sie planen, eine Genossenschaft zu gründen? Der Genossenschaftsverband Bayern (GVB) unterstützt sie vollumfänglich bei Ihrem Vorhaben. Erste Informationen gibt es kompakt aufbereitet auf der Webseite des Verbands. Sie haben Fragen, möchten weiterführende Infos einholen oder mit der Realisierung beginnen? Dann kontaktieren Sie gerne das Gründungsteam um Erika Henger, Max Riedl und Bahar Ucar.