Plastikfrei: In Bayern gründen immer mehr umweltbewusste Bürger genossenschaftliche Unverpackt-Läden. Das Konzept kommt bei den Kunden gut an.
Ob für den Wocheneinkauf, für eine vergessene Zutat zum Backen oder für das Feierabendbier: Jahrzehntelang konnten sich die Menschen aus Bad Kohlgrub im Landkreis Garmisch-Partenkirchen bequem in der Edeka-Filiale „nah & gut Reiner“ im Ortszentrum mit Lebensmitteln und Artikeln des täglichen Bedarfs eindecken. Doch 2019 war Schluss, der damals 73-jährige Inhaber Hans Reiner beschloss, sein Geschäft aufzugeben. Jahrelang hatte er sich um eine Nachfolge bemüht, doch sowohl die Kosten für die Immobilie als auch der Sanierungsbedarf schreckten potenziell Interessierte ab. Die Konsequenz: Ab Oktober 2019 mussten die Bürgerinnen und Bürger für den Lebensmittel-Einkauf in den nächsten Ort fahren.
Versorgungslücke gemeinschaftlich schließen
Mit dieser Versorgungslücke wollten sich die Menschen nicht abfinden. „Ohne Nahversorger sinkt die Lebensqualität des Orts massiv. Dazu kommen die negativen Auswirkungen auf die umliegenden Geschäfte und Restaurants, da die Laufkundschaft fehlt. Es gab also ein großes Interesse, dass Bad Kohlgrub wieder einen Supermarkt bekommt“, sagt Clemens Böhmer. Zusammen mit Anja Lory und anderen engagierten Bürgerinnen und Bürgern gründete er eine Arbeitsgruppe. Diese entwickelte den Plan, die Immobilie des früheren Supermarkts gemeinschaftlich zu erwerben, zu sanieren und zu verpachten.
„Die Modellrechnung hat uns gezeigt, dass ein Supermarkt in Bad Kohlgrub marktwirtschaftlich zu betreiben ist.“
Eine zentrale Herausforderung stellte sich direkt zu Beginn: Die Arbeitsgruppe verschaffte sich einen Überblick, ob das Projekt wirtschaftlich tragfähig ist. Dazu gab ihnen der Supermarktbesitzer Einblick in die Geschäftszahlen. Die damalige Erkenntnis: „Damit sich der Laden rechnet, müssen wir die Einnahmen erhöhen. Das erfordert drei Maßnahmen: Erstens das Sortiment anpassen, zweitens das Sortiment erweitern und drittens den Laden modernisieren. Die anschließende Modellrechnung hat uns gezeigt, dass ein Supermarkt in Bad Kohlgrub marktwirtschaftlich zu betreiben ist“, sagt Böhmer. Zudem ermittelte die Arbeitsgruppe einen notwendigen Kapitalbedarf von insgesamt 500.000 Euro: 350.000 Euro für den Ankauf der Immobilie inklusive Nebenkosten sowie 150.000 Euro für die Sanierung.
Rechtsform Genossenschaft überzeugt
Parallel überlegten die Beteiligten, welche Rechtsform am besten zu dem Vorhaben passt. Die Wahl fiel nach kurzer Zeit auf die Genossenschaft. Die Gründe: „Wir wollten das Projekt auf eine breite Basis stellen. Alle sollten sich beteiligen können: Die Alteingesessenen, die Zugereisten, die Touristen. Auch die positiven Erfahrungen aus dem Nachbarort Altenau, in dem eine Genossenschaft erfolgreich das Wirtshaus verpachtet, haben eine Rolle dafür gespielt, auf diese Rechtsform zu setzen“, sagt Böhmer.
Das Konzept und die Zahlen stellte die Arbeitsgruppe auf einer Informationsveranstaltung vor. Anschließend konnten die Bürgerinnen und Bürger Absichtserklärungen ausfüllen und damit bekunden, ob und mit wie vielen Anteilen à 500 Euro sie sich an der Genossenschaft beteiligen. Dafür hatten sie zwei Wochen Zeit. Auf einer Webseite informierte die Arbeitsgruppe laufend über das eingesammelte Kapital. „Vor allem in den vier Tagen vor Ablauf der Frist gab es einen deutlichen Schub, weil die Menschen gemerkt haben, dass noch Geld fehlt“, sagt Peter Pausinger, der durch die Informationsveranstaltung von dem Projekt erfuhr. Letztlich reichte es: Zum Ablauf der Frist hatten 350 Menschen die benötigte Summe beigesteuert. Daraufhin wurde die Genossenschaft im November 2019 gegründet und im April 2020 unter dem Namen Markt in Bad Kohlgrub eG offiziell eingetragen. Clemens Böhmer wurde zum Vorstandsvorsitzenden gewählt, Peter Pausinger zum Vorstand.
Anschließend zahlten die Mitglieder das Kapital ein und die Genossenschaft kaufte die Immobilie. Gleichzeitig sprachen die Verantwortlichen mit möglichen Pächterinnen und Pächtern. Nachdem ein Interessent seine Bewerbung kurz vor Abschluss der Gespräche zurückgezogen hatte, führte die weitere Suche zum Erfolg: Anfang September 2020 unterzeichneten Martina und Wolfgang Mayr, die zwei Supermärkte am Staffelsee führen, den Pachtvertrag. Sie wollten den Markt jedoch nicht selbst leiten, sondern übergaben diese Aufgabe an Sohn Andreas Mayr und dessen Lebensgefährtin Viktoria Lichtenstern.
Zu diesem Zeitpunkt hatte die Genossenschaft ihre Mitglieder sowie die Bürgerinnen und Bürger nach den Bedürfnissen und Wünschen für das Sortiment des Lebensmittelmarkts gefragt. Ihre Anregungen flossen in die Ladenplanung mit ein, um die sich die Verantwortlichen der Markt in Bad Kohlgrub eG gemeinsam mit den Pächtern kümmerten. Der Vorstandsvorsitzende Clemens Böhmer, hauptberuflich Architekt, verantwortete die Sanierung. Den überwiegenden Teil der Arbeiten leisteten Handwerksbetriebe, zudem engagierten sich einige Teilhaber der Genossenschaft.
10.000 statt 3.000 Produkte
Am 19. Mai 2021 öffnete „nah & gut Mayr“ erstmals seine Türen. Damit konnten die Menschen aus Bad Kohlgrub nach anderthalb Jahren wieder vor Ort Lebensmittel einkaufen. Die Verkaufsfläche ist wie zuvor 300 Quadratmeter groß, dank eines neuen Raumkonzepts stehen jedoch rund 10.000 Produkte und damit knapp 7.000 mehr als früher in den Regalen. Der Supermarkt, der zur Edeka-Gruppe gehört, ist montags bis freitags von 7 bis 19 Uhr sowie samstags von 7 bis 14 Uhr geöffnet. Die Rückmeldungen der Mitglieder seien ausschließlich positiv, berichtet Pausinger: „Modern, schön und tolles Angebot – so lassen sich die Aussagen in wenigen Worten zusammenfassen“, sagt er.
Ist das Bad Kohlgruber Modell – mithilfe einer Genossenschaft einen aufgegebenen Supermarkt zu übernehmen, zu sanieren und anschließend zu verpachten – ein Vorbild für andere Kommunen? Die Vorstände können sich das gut vorstellen. „Die Genossenschaft war die richtige Entscheidung, weil sich alle Bürgerinnen und Bürger beteiligen können und von dem Ergebnis profitieren“, sagt Böhmer. Er empfiehlt, das Projekt am Anfang sauber durchzurechnen. „Entscheidend ist, dass die Genossenschaft eine Nachfrage bedient und marktwirtschaftlich funktioniert. Wenn diese Voraussetzungen gegeben sind, ist noch viel Arbeit zu erledigen – der Grundstein für den Erfolg ist aber gelegt“, sagt Böhmer.
Genossenschaft gründen
Sie überlegen, eine Genossenschaft zu gründen? In der Broschüre „Für alle, die gemeinsam handeln wollen“ informiert der Genossenschaftsverband Bayern (GVB) über die Unternehmensform eG, lässt Gründerinnen und Gründer von Genossenschaften zu Wort kommen und gibt Tipps aus der Praxis. Gerne können Sie zudem die GVB-Fachleute ansprechen, die Sie bei Ihrem Vorhaben unterstützen. Alle Informationen zur Gründungsberatung des GVB gibt es hier. Auch die Markt in Bad Kohlgrub eG hat auf das GVB-Angebot zurückgegriffen. „Im Rahmen der Gründungsvorbereitung sind viele Fragen aufgekommen, die unser Ansprechpartner schnell und kompetent beantwortet hat. Unterstützung gab es zudem bei der Gründungsveranstaltung. Insgesamt haben wir uns sehr gut betreut gefühlt“, sagt Peter Pausinger, Vorstand der Genossenschaft.