Kundennähe: Immer mehr Geschäftsbeziehungen laufen online ab. Welche Rolle da noch persönliche Kontakte spielen, erklärt der Digitalexperte Nicholas Müller.
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Bundesgesundheitsminister Jens Spahn gibt die Marschrichtung vor: Digitale Anwendungen sollen im Gesundheitswesen Einzug halten, mit echtem Mehrwert für die Versicherten. Jedes Gesetz aus dem Bundesgesundheitsministerium enthalte mittlerweile digitale Aspekte, so Spahn. „Die Digitalisierung sinnvoll zu nutzen, ist eine der großen Herausforderungen der Gesundheitspolitik der nächsten Jahre. Wenn wir die Chancen des digitalen Wandels ergreifen, können wir den Patientenalltag besser machen. Wir sollten den digitalen Wandel gestalten und nicht erleiden“, sagte der Bundesgesundheitsminister bei einem Treffen mit seinen Länderkollegen in Leipzig.
Den digitalen Wandel gestalten und nicht erleiden – das ist für die Apotheken vor Ort ebenfalls ein Thema mit hoher strategischer Bedeutung. Und damit auch für den genossenschaftlichen Pharma-Großhändler Sanacorp, der rund 7.500 Apotheken in ganz Deutschland mehrmals täglich mit Medikamenten versorgt. „Die Digitalisierung verändert die Rahmenbedingungen komplett“, sagt Manuel Kuhn, Bereichsleiter Produkt- und Servicemanagement bei der Sanacorp eG.
Rahmenbedingungen verändern sich
Auch bei Arzneimitteln und Gesundheitsprodukten verlassen sich die Verbraucher nicht mehr nur auf den Rat ihres Apothekers, sondern informieren sich auch im Internet. „Die Kunden legen sich nicht mehr auf einen Vertriebskanal fest, sondern erwarten online den gleichen Service wie in der Apotheke vor Ort. Diesem hybriden Kundenverhalten müssen wir gerecht werden“, sagt Kuhn.
Gleichzeitig ändern sich die gesetzlichen Rahmenbedingungen: Ab kommendem Frühjahr sollen Ärzte zum Beispiel verschreibungspflichtige Medikamente per elektronischem Rezept (eRezept) verordnen können. So sieht es das Gesetz für mehr Sicherheit in der Arzneimittelversorgung (GSAV) vor, das kürzlich vom Bundestag beschlossen wurde. Sobald das Gesetz in Kraft ist, hat die Gesundheitswirtschaft sieben Monate Zeit, die Strukturen für das eRezept zu schaffen. „Dann ist die Versandapotheke nur noch einen Klick entfernt“, sagt Kuhn. Der Pharma-Versandhandel ist ohnehin längst auf dem Vormarsch. In München zum Beispiel können sich Verbraucher rezeptfreie Arzneimittel über den Amazon-Lieferdienst Prime Now innerhalb von einer Stunde nach Hause liefern lassen.
Die Apotheken vor Ort wissen, dass sie den digitalen Gewohnheiten ihrer Kunden entgegenkommen müssen. „Da hat in der Branche ein Bewusstseinswechsel stattgefunden“, sagt Kuhn. Bereits heute verwenden rund 1.500 Apotheken in Deutschland unter Federführung der Sanacorp die gemeinsame Dachmarke „mea – meine Apotheke“. Bisher liegt der Schwerpunkt der Kooperation auf dem Marketing: Es gibt unter anderem monatlich wechselnde Kampagnen, mea-Gesundheitstipps, mea-Rezepte für eine gesunde Ernährung und ein eigenes mea-Kindermagazin. Außerdem vertreiben die Apotheken unter „mea“ Eigenmarken für Körperpflege, Hygiene sowie für Vitamine und Mineralstoffe.
E-Commerce-Plattform mit Live-Chat und Shop
Dabei wird es jedoch nicht bleiben: Eine E-Commerce-Plattform mit Live-Chat und Shop soll mea-Apotheken und Endkunden gleichermaßen einen zusätzlichen Kommunikations- und Bestellkanal eröffnen. Das neue Angebot „meadirekt“ durchläuft gerade die Pilotphase und soll laut Kuhn noch dieses Jahr live gehen. „Unser Ziel ist es, die stationäre Apotheke auch in der digitalen Welt zu verankern. In der Testphase wurde das Angebot sehr gut angenommen“, sagt Sanacorp-Produktmanager Kuhn. Der neue Digitalservice wird über zwei Funktionalitäten verfügen:
- In der ersten Ausbaustufe können Kunden über den meadirekt-Live-Chat persönlich und in Echtzeit mit ihrem Apotheker kommunizieren und zum Beispiel Medikamente vorbestellen. Per Texteingabe erhält die Apotheke die Anfrage und kann dem Kunden dann den Abholzeitpunkt mitteilen – das spart Zeit und doppelte Wege. Rezepte lassen sich per Foto übertragen. Laut Kuhn werden alle datenschutzrechtlichen Regelungen vollumfänglich eingehalten – ein sensibler Punkt im Gesundheitswesen. Der Live-Chat kann unkompliziert in den betrieblichen Alltag der Apotheken integriert werden, so das Versprechen von Sanacorp.
- Im meadirekt-Shop können die Kunden zum Start der zweiten Ausbaustufe aus über 40.000 Produkten ihre Wunschartikel auswählen und später in der Apotheke abholen. „Click & Collect“ heißt das im Fachjargon. In dem Click & Collect-Shop sollen auch die Produkte der mea-Monatsaktionen prominent präsentiert werden. Die Verkaufspreise können von den teilnehmenden Apothekern jederzeit individuell festgelegt werden.
Die neue E-Commerce-Plattform soll durch entsprechende Vermarktungs-Aktionen bundesweit beworben werden. Sanacorp-Manager Kuhn nennt das Paket eine „runde Sache“, das die persönliche Beratung durch die Apotheke mit den Bestellmöglichkeiten des Internets verbinde. „Mit meadirekt steht zukünftig allen Kooperationsteilnehmern ihre eigene digitale Apotheke zur Verfügung, ohne dabei auf die wichtige Nähe zum Kunden zu verzichten. Die Verknüpfung dieser Leistungen in Verbindung mit unseren Online- und Offline-Vermarktungsmaßnahmen gewährleistet Kundenfrequenz und Absatz in den Apotheken und schafft somit ein optimales Kundenerlebnis“, sagt Kuhn.
Partner der Apotheker seit 1924
Die Sanacorp eG Pharmazeutische Großhandlung mit Sitz in Planegg bei München ist die älteste Apotheker-Genossenschaft in Deutschland. Die erste Vorgängergenossenschaft wurde 1924 in Esslingen bei Stuttgart gegründet. Heute sind rund 7.700 von deutschlandweit über 19.500 selbstständigen Apothekern Mitglied der eG. Zusammen mit ihren Tochtergesellschaften erzielte die Sanacorp eG 2018 einen Jahresumsatz von 4,6 Milliarden Euro. Der Pharma-Großhändler beschäftigt rund 3.000 Mitarbeiter in bundesweit 17 Niederlassungen. Mehrmals täglich werden rund 7.500 Apotheken im gesamten Bundesgebiet mit Arzneimitteln und Gesundheitsprodukten beliefert. Darüber hinaus unterstützt das Unternehmen seine Mitglieder unter anderem in der Logistik, im Qualitätsmanagement sowie im Marketing. So soll die Wettbewerbsfähigkeit der inhabergeführten Apotheken vor Ort gefördert und ihre Unabhängigkeit gesichert werden.
Die neue Plattform haben Kuhn und seine Kollegen unter anderem mit agilen Arbeitsmethoden wie „Design Thinking“ (PDF aus „Profil“ 9/2016 herunterladen) oder „Scrum“ entwickelt. Um das Geschäftsmodell einer Idee darzustellen und zu überprüfen, setzt der Sanacorp-Manager auf die „Canvas“-Methode. „Produktentwicklung darf nie Selbstzweck sein, sondern muss immer auf die Bedürfnisse der Nutzer eingehen“, sagt Kuhn.
Um zu testen, ob die Kunden den Live-Chat und den Onlineshop überhaupt annehmen, band das Sanacorp-Entwicklerteam die Apotheken und ihre Kunden von Anfang an in den Gestaltungsprozess ein. In Interviews, Workshops und Fokusgruppen wurden die Tester regelmäßig um ihre Meinung gebeten, ob sie die Idee nützlich finden. Zusätzlich brachten Kuhn und seine Entwickler erste Prototypen schon in einem sehr frühen Stadium auf den Markt, um zu sehen, ob diese von den Nutzern überhaupt angenommen werden. So lassen sich minimal funktionsfähige Produkte unter annähernd realen Bedingungen testen und auf Basis der Rückmeldungen schnell verbessern. Der Vorteil dieser „Minimal Viable Products“ (MVP) liegt auf der Hand: Unternehmen erkennen schnell, ob es sich lohnt, diese weiterzuverfolgen. So vermeiden sie es, viel Zeit und Energie in Anwendungen zu stecken, die sich hinterher als Fehlentwicklung herausstellen.
„Testen und lernen“, nennt Kuhn die Vorgehensweise, mit der er sehr zufrieden ist. Für den Start des Live-Chats sieht er sich gut gerüstet. Bereits nach den ersten Wochen seien die Rückmeldungen der Testkunden sehr positiv ausgefallen. Getestet wurde in der Sanacorp-Zentrale in Planegg, aber auch bei den Apotheken vor Ort. Alle Anregungen seien unmittelbar in die Weiterentwicklung eingeflossen. „Das zahlt sich für uns aus, weil wir genau wissen, was bei den Apotheken und ihren Kunden gut ankommt“, sagt Kuhn. Auch bei den Sanacorp-Entwicklern sind die Wege kurz. Das gesamte Team sitzt interdisziplinär in einem Büro in der Sanacorp-Zentrale zusammen.
Die Arbeit wird den Entwicklern nicht so schnell ausgehen: „Meadirekt ist nie fertig“, sagt Kuhn. Sein Team wird genau beobachten, wie die Apotheken und ihre Kunden die Plattform annehmen und wo es hakt. Wann werden Chats abgebrochen und aus welchen Gründen? Mit welchen Funktionen kommen die Nutzer nicht klar? Neben der Analyse von möglichen Problemen steht auch die ständige Weiterentwicklung des Angebots im Fokus. Ansätze dazu gibt es viele: Ist es sinnvoll, den Live-Chat rund um die Uhr anzubieten? „Ich kann im Internet nachts um zwei Uhr eine Pizza bestellen, aber ich bekomme keinen medizinischen Rat von einem Apotheker“, führt Kuhn als Beispiel an.
Auch der meadirekt-Shop soll perspektivisch weiterentwickelt werden. So sollen sich die Endkunden ihre rezeptfreien Wunschartikel von den stationären Apotheken nach Hause liefern lassen können („Click & Deliver“). Dafür sollen entsprechende Bezahllösungen in den Shop eingebunden werden. „Dann werden sowohl Beratung und Kommunikation als auch das gezielte Reservieren und Bestellen von Arzneimittelprodukten mit nur wenigen Klicks möglich sein“, kündigt Kuhn an.
Nutzen frühzeitig kommunizieren
Zum Start des neuen meadirekt-Angebots setzt die Sanacorp eG auf ein ganzes Bündel an Schulungs- und Kommunikationsmaßnahmen, um die Apotheken vor Ort bei der Einführung zu unterstützen. „Ein wesentlicher Punkt ist, den eigenen Vertrieb und die Außendienst-Mitarbeiter im Thema fit zu machen, denn sie sind unser Sprachrohr“, sagt Sanacorp-Produktmanager Manuel Kuhn. Zum „Onboarding“ der Apotheken gehört neben Schulungen und Erklär-Videos auch das Angebot, meadirekt persönlich zu testen. „Wir nehmen die Apotheker an die Hand und erklären ihnen alles“, sagt Kuhn. Wichtig sei auch, die späteren Nutzer frühzeitig über das neue Produkt zu informieren und deren Sorgen ernst zu nehmen. Denn das Angebot werde von Kunden wie Apothekern nur angenommen, wenn sie den Nutzen erkennen und sehen, dass sie davon profitieren. „Betroffene zu Beteiligten machen“, nennt Kuhn das. Darüber hinaus plant die Sanacorp ein umfangreiches Kommunikations- und Vermarktungspaket zur Einführung mit Info-Flyern, Posts in den sozialen Medien sowie Anzeigen in den Lesezirkel-Blättern, die in den Arztpraxen ausliegen. Kuhn: „Da spielen wir die komplette Klaviatur.“
Initiative für alle Apotheken vor Ort
Trotzdem ist meadirekt für den Sanacorp-Manager nur eine Insellösung, die später in einer branchenweiten Plattform aufgehen soll. Die Initiative dafür gibt es schon. Zusammen mit vier weiteren Unternehmen aus der Pharma-Branche hat die Sanacorp eG das Joint-Venture „pro AvO – Die Initiative für alle Apotheken vor Ort“ gegründet, um gemeinsam eine digitale Branchenlösung für alle inhabergeführten Apotheken in Deutschland zu entwickeln.
„Wir glauben daran, dass niemand alleine eine Branchenlösung für die stationären Apotheken schaffen kann. Nur eine gemeinsame Plattform, die offen für alle Marktteilnehmer ist, wird langfristig erfolgreich sein“, ist Kuhn überzeugt. So sollen die über 19.500 Apotheken vor Ort zu einem großen und leistungsfähigen Versorgungsnetzwerk zum Vorteil der Endverbraucher und Patienten verbunden werden – was wiederum die einzelne Apotheke nachhaltig stärken soll. Einzelne Apotheken seien aufgrund fehlender Ressourcen und finanzieller Mittel gar nicht in der Lage, flächendeckende Lösungen aufzubauen, so Kuhn – zum Beispiel ein 24-Stunden-Beratungsangebot für Kunden und Patienten.
„Wettbewerb belebt das Geschäft. Am Ende kommt es auf die richtigen Partner an“, sagt Kuhn, und ergänzt: „Wichtig ist, dass die digitalen Leistungen vor Ort umgesetzt werden. Denn nur so können die Verbraucher die Vorteile stationärer Angebote mit dem Komfort digitaler Services verbinden. Darin liegt der Schlüssel zum Erfolg – zum Nutzen der Kunden wie der Apotheken.“