Baustelle: Das europäische Finanzsystem ist seit der Krise stärker geworden. Doch viele Probleme sind noch ungelöst, warnt der Finanzwissenschaftler Sascha Steffen.
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Die Stille vor der Fed war unheimlich
Heike Buchter, New York: „Eigentlich wollten wir am Sonntag, den 14. September 2008, den ersten Geburtstag unseres Sohnes mit Freunden im Prospect Park im New Yorker Stadtteil Brooklyn feiern. Doch schon am Morgen verdichteten sich die Gerüchte, dass Lehman Brothers nicht mehr zahlungsfähig war. Also haben wir uns mit Kind, Kinderwagen, Fläschchen und Windeln auf nach Downtown Manhattan gemacht, um vor dem Gebäude der Federal Reserve Bank Posten zu beziehen.
Mein Mann Jens Korte ist ebenfalls Journalist. Wir wollten möglichst nah dran sein, denn die Verhandlungen waren streng geheim. Also haben wir mit Kollegen die Eingänge der Fed belagert und geschaut, wer kommt und wer geht. Die gesamte Spitze der amerikanischen Finanzwirtschaft hatte sich eingefunden. Auch der damalige US-Finanzminister Henry Paulson, Fed-Chef Ben Bernanke und sein New Yorker Statthalter Timothy Geithner saßen mit am Verhandlungstisch. Als ein Caterer dann Suppe und Sandwiches lieferte, wussten wir, dass sich die Verhandlungen hinziehen. Später fuhren dann die Anwälte in den typischen gelben New Yorker Taxis vor. Ein klares Zeichen dafür, dass eine Entscheidung gefallen war, die nun zu Papier gebracht werden musste.
Die Fed in New York sieht aus wie eine riesige Trutzburg. Wir Journalisten ahnten, dass im Inneren der Fed gerade etwas Großes geschieht, aber keiner wusste was. Die Stille vor dem Gebäude war beinahe unheimlich. Jeder hat den Atem angehalten, als würde gleich ein Vulkan oder ein schweres Gewitter losbrechen. Als am Abend klar wurde, dass Lehman fallen gelassen wird, war der Schock groß. Damit hatte niemand gerechnet. Die Erkenntnis, dass die gesamte Intelligenz der amerikanischen Finanzindustrie den Lehman-Crash nicht aufhalten kann oder will, hat bei uns Journalisten ein flaues Gefühl im Magen verursacht.“
Anruf nach Mitternacht
Franz-Christoph Zeitler: „Der 15. September 2008 war in Deutschland gerade erst angebrochen, als mich der damalige Bundesbankpräsident Axel Weber kurz nach Mitternacht anrief und mir übermittelte, was er zuvor vom Vorsitzenden der US-Notenbank Fed, Ben Bernanke, erfahren hatte. Lehman Brothers habe nach „Chapter 11“ die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens beantragt und die US-Regierung werde keine Rettungsversuche mehr unternehmen.
Von diesem Tag an bestimmten Sitzungen des Finanzkrisenstabs der Bundesbank, kurzfristige Vorstandssitzungen, Telefonkonferenzen mit der BaFin, dem Bundesfinanzministerium, dem Eurosystem und mit der Fed den Tagesablauf. Für die Bundesbank galt es zunächst, anhand der in den Monaten zuvor vorbereiteten Aufstellungen über das deutsche Bankensystem einen genauen Überblick über die unmittelbaren Konsequenzen zu gewinnen: Welche deutschen Banken und Finanzinstitute hatten in welchem Umfang Bilanzaktiva, vor allem verbriefte Forderungen gegenüber Lehman und insbesondere gegenüber der deutschen Lehman-Tochter, die kurz darauf von der BaFin unter ein Moratorium gestellt wurde?“
Überall herrschte Alarmstimmung
Rigobert Kaiser, München: „Ab dem Tag der Lehman-Pleite ging es für uns Journalisten über Monate richtig rund. Wir Wirtschaftsjournalisten vom Bayerischen Rundfunk wurden als Experten in die einzelnen Redaktionen geschickt, um die Hörer und Fernsehzuschauer über die Folgen der Krise aufzuklären und die Hintergründe zu beleuchten.
Überall herrschte Alarmstimmung. Die Verunsicherung der Bürger war enorm und ihre Angst um die eigenen Ersparnisse geradezu mit Händen greifbar. Geld war immer das dominante Gesprächsthema, egal wo ich hingekommen bin. Selbst im privaten Kreis bin ich darauf angesprochen worden. Ich habe dann immer versucht, die Zusammenhänge nüchtern und sachlich zu erklären, schließlich bin ich Journalist und kein Vermögensberater.“
Banker, Gier und Schäfchenwolken in New York
Norbert Kuls, New York: „Der Montag, an dem die Investmentbank Lehman Brothers pleiteging, ähnelte einem normalen Spätsommertag. Im Geschäftsviertel nördlich des New Yorker Times Square strömten um die Mittagszeit Männer mit offenen Hemden und Frauen in Business-Kostümen auf die Bürgersteige und mühten sich, den Touristenpulks auszuweichen. An der beleuchteten Fassade des Lehman-Wolkenkratzers fehlte jeder Hinweis, dass sich der Dow Jones im freien Fall befand. Stattdessen wechselten sich dort Bilder von Sonnenuntergängen, Kornfeldern und Schäfchenwolken vor blauem Himmel ab. Nur Übertragungswagen und Fernsehreporter vor dem Haupteingang an der 7. Avenue signalisierten, dass es wichtige Nachrichten gab. „Die Gier hat sie heruntergeholt“, schrieb ein Passant auf ein Porträt des Lehman-Chefs Dick Fuld, das ein Künstler aufgestellt hatte. Die Lehmänner, die weitgehend vollständig angetreten waren, reagierten mit einer Mischung aus Resignation und Ratlosigkeit. „Das ist es wohl gewesen, Bruder. Es war eine gute Zeit“, sagte einer der Banker, die am Seiteneingang standen und rauchten.“
Das Jahr 1931 vor Augen
Franz-Christoph Zeitler: „An den Finanzmärkten kam es zu einer „Implosion des Vertrauens“ der Kreditinstitute untereinander. Vor allem die Kurse der als Vertrauensindikator betrachteten Kreditausfallversicherungen (CDS) schossen in die Höhe, kurzfristige Finanzierungen wurden nicht mehr verlängert, Kreditlinien der Banken untereinander eingeschränkt und gekündigt, die Preise für strukturierte Wertpapiere (ABS) verfielen und Institute wie die Hypo Real Estate, die kurz zuvor eine in Irland situierte Gesellschaft mit einem hohen Berg an Verbriefungen erworben hatte, kamen in Schwierigkeiten.
Mit dem Zusammenbruch von Lehman gingen die bis dahin zu beobachtenden Probleme einzelner exponierter Institute offen in eine Systemkrise über. Auf sie musste eine systemische Antwort gefunden werden, die über bankaufsichtliche Einzelaktionen und Liquiditätsbrücken des Finanzsektors hinausging. Ohne den Teufel an die Wand zu malen, hatten wir in internen Gesprächen oft als mahnendes Beispiel das Jahr 1931 vor Augen, als in Deutschland durch den Zusammenbruch von Banken der „Blutkreislauf der Wirtschaft“ gestört, aus der Finanzkrise eine Wirtschaftskrise und schließlich eine Krise des politischen Systems wurde, an deren Ende die Diktatur des Dritten Reichs stand.“
Nächtliche Beklemmungszustände
Norbert Kuls: „In den Wochen nach der Lehman-Pleite wich die Unwirklichkeit bitterer Realität. Auf dem Parkett der New Yorker Börse klagte selbst der Crash-erprobte Aktienhändler Teddy Weisberg über nächtliche Beklemmungszustände. Im Finanzdistrikt litten die Chauffeure der schwarzen Lincoln-Limousinen unter Auftragsmangel und kargen Trinkgeldern. Imbissverkäufern vor der Börse brach der Umsatz mit Hummersuppe weg und Schuhmacher mussten ihre Preise für neue Sohlen rechtfertigen.“
Mehr als 80 Anrufe pro Minute
Rigobert Kaiser: „Die massive Verunsicherung der Bevölkerung trat besonders bei einem Hörertag im Radioprogramm Bayern 1 zutage, den wir vier oder fünf Wochen nach dem Lehman-Crash organisiert hatten. Die Hörer konnten von 7 Uhr morgens bis 19 Uhr abends im Studio anrufen und Fragen zur Finanzkrise stellen. Diese wurden von verschiedenen Experten im Studio beantwortet. Es haben alle angerufen, Junge, Alte, quer durch alle Einkommens- und Bildungsschichten. Ganz oft ging es um das eigene Vermögen der Anrufer und ob es in Gefahr ist. Es gab auch Bürger, die wissen wollten, ob sie ihr Geld abheben und unter das Kopfkissen legen sollen. Viele Ängste waren irrational, da hat es den Hörern schon geholfen, mal mit jemandem darüber zu sprechen. Wir haben ihnen dann erklärt, dass es in Deutschland eine funktionierende Einlagensicherung gibt. Das hat viele beruhigt. Insgesamt haben wir an diesem Tag innerhalb von zwölf Stunden 60.000 Anrufe oder Anrufversuche verzeichnet, im Schnitt mehr als 80 pro Minute. Eine solche Resonanz habe ich seitdem nicht mehr erlebt.“
Patient mit multiplem Organversagen
Heike Buchter: „Die Zentralbanken hatten alle Hände voll zu tun, die Märkte zu beruhigen und den Finanzkreislauf zu stützen, damit die Wirtschaft nicht vollends in den Strudel der Finanzkrise gezogen würde. Ich stelle mir das vor wie bei einem Notfallpatienten mit multiplem Organversagen. Die Ärzte machen eine Herzdruckmassage, um den Kreislauf aufrechtzuerhalten, gleichzeitig müssen sie innere Blutungen stillen und Antibiotika geben, um einer Ausbreitung der Infektion vorzubeugen – zum Schluss hat der Patient Wall Street zwar überlebt, aber nur mit viel frischem Blut von den Steuerzahlern.“
In der Rekordzeit von 14 Tagen
Franz-Christoph Zeitler: „Wir hatten in der Bundesbank schon vorsorglich im Sommer interne Überlegungen für umfassende gesetzliche Maßnahmen angestellt, die zur Umstrukturierung von Instituten, aber auch zu Garantien und notfalls Kapitalbeteiligungen der öffentlichen Hand, also zu einem „staatlichen Vertrauensanker“ für den Finanzsektor, ermächtigen sollten. Es gehört zu den ermutigenden Erfahrungen dieser Krisenzeit, dass die politischen Institutionen in Deutschland mit Hochdruck an dem Finanzmarktstabilisierungsgesetz einschließlich der Gründung einer Stabilisierungsinstitution („SoFFin“) arbeiteten und Bundestag und Bundesrat das Gesetz schließlich in der Rekordzeit von 14 Tagen verabschiedet haben. Hier haben sich die Soziale Marktwirtschaft und das oft kritisierte föderale System in Deutschland in der Krise bewährt. Bewährt hat sich auch das mehrgliedrige deutsche Bankensystem mit unterschiedlichen Institutsgruppen, Rechtsformen und Geschäftsmodellen, das die vielfach befürchtete Kreditklemme und damit ein breites Überschwappen der Finanzkrise auf die Realwirtschaft verhinderte.“
Nach Börsenschluss füllt sich die Bar wieder
Norbert Kuls: „Die Schockstarre hielt ein paar Monate an, aber schon ein Jahr nach dem Kollaps von Lehman war sie gewichen. Im Wolkenkratzer an der 7. Avenue war die britische Bank Barclays eingezogen. Der Dow Jones zeigte nach oben. Im populären Steakhaus Bobby Van’s füllte sich nach Börsenschluss wieder die Bar.“
Intensive Monate
Heike Buchter: „Insgesamt habe ich die Monate nach dem Lehman-Crash als sehr intensiv und emotional erlebt. Niemand wusste, wie es weitergehen würde. Immerhin hat unser Sohn diese Zeit gut überstanden. Ich hatte schon befürchtet, dass sein erstes Wort wegen meiner Recherchen nicht „Mama“ wäre, sondern vielleicht „Credit Default Swap“, also Kreditausfallversicherung. Diese Angst war Gott sei Dank unbegründet.“