Corona-Lehren: Der Lockdown der Wirtschaft war auch ein Lackmus-Test für die Bankenregulierung. Was lief gut, was schlecht? Zeit für einen „Fitness-Check“.
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Die wichtigsten Aussagen von Stephan Paul
- Bankenregulierung muss sowohl in guten als auch in schlechten wirtschaftlichen Zeiten funktionieren, da schwer vorhersehbare Schockszenarien immer wieder auftreten.
- In der aktuellen Corona-Situation hat es Sinn gemacht, Banken von verschiedenen Vorschriften zu entlasten. Noch sinnvoller wäre es, wenn die Aufsicht ein mittel- bis langfristiges Konzept aufstellt, nach welchen Kriterien sie reguliert und dereguliert.
- Es ist unbedingt notwendig, einzelne Regulierungsmaßnahmen und ihr Zusammenspiel regelmäßig in einem größeren Stil zu evaluieren. Auf diese Weise können Politik und Aufsicht prüfen, welche Vorschriften Sinn machen – und welche nicht.
- Behörden sollten neue Vorschriften anhand von Simulationen – analog zur Pharmaindustrie – auf unerwünschte Nebenwirkungen prüfen.
- Der Gesetzgeber sollte das Prinzip der Proportionalität im Bankensektor stärken und jede Regel daraufhin überprüfen, ob sie für alle Kreditinstitute nötig ist oder nur für international tätige Großbanken.
Herr Professor Paul, seit der Finanzkrise 2008 wurden die gesetzlichen und aufsichtlichen Regulierungen für Kreditinstitute zunehmend verschärft. Nun haben Politik und Aufsicht zu Beginn der Corona-Pandemie mehrere Vorgaben wieder gelockert. Wie passt das zusammen?
Stephan Paul: Es muss uns nachdenklich machen, dass die Aufsicht in der aktuellen Situation zahlreiche Regulierungsmaßnahmen aussetzt, um eine reibungslose Kreditvergabe der Banken an die Realwirtschaft zu ermöglichen. Eigentlich sollte Regulierung insbesondere auch für Krisenzeiten geeignet seien.
„Bankenregulierung sollte für alle wirtschaftlichen Szenarien passen – gerade auch für unvorhersehbare Situationen.“
Nun kann man einwenden, dass die Corona-Pandemie eine außergewöhnliche Situation ist.
Paul: Ja, und das stimmt auch. Aber externe Schockszenarien gibt es immer wieder. Denken Sie etwa an die Terroranschläge vom 11. September 2001, mit denen niemand gerechnet hatte. Oder jetzt Corona. Und in zehn Jahren gibt es vielleicht einen anderen Grund, der plötzlich zu einem starken Einbruch der Konjunktur in Deutschland führt und dann zu temporären Erleichterungen für Banken, damit sie die Realwirtschaft mit Krediten versorgen können. Das Argument, eine Situation sei außergewöhnlich, ist letztlich inkonsequent. Nochmal: Bankenregulierung sollte für alle wirtschaftlichen Szenarien passen – gerade auch für unvorhersehbare Situationen.
Konkret hat die Aufsicht einige Kapital- und Liquiditätspuffer ausgesetzt, die Umsetzung der finalen Basel-III-Vorgaben verschoben und Vorgaben zu Stundungen temporär gelockert. Wie bewerten Sie die Maßnahmen?
Paul: Die einzelnen Maßnahmen lassen sich sicherlich gut nachvollziehen. Wobei mir manches willkürlich erscheint. Nehmen wir die Pufferregelungen beim Eigenkapital. Diese hat die Aufsicht reduziert, um Banken mehr Spielraum bei der Kreditvergabe zu geben. Das ist eine sinnvolle Maßnahme. Aber sollten dann nicht die Regeln zum International Financial Reporting Standard 9 (IFRS 9) beibehalten werden? Und wie lassen sich Ausfallrisiken transparent bewerten? Das ist ebenfalls wichtig. Mir fehlt also in Summe ein Konzept, wie die Aufsicht zuerst reguliert und anschließend dereguliert. Die Maßnahmen wirken nicht einheitlich, sondern ad-hoc-getrieben und ohne wissenschaftliches Fundament aufgesetzt.
Auch der europäische Gesetzgeber hat reagiert und einen sogenannten „Quick Fix“ für die Capital Requirements Regulation (CRR) beschlossen. Ein überfälliger Schritt?
Paul: Der CRR-Quick Fix war dringend notwendig. Gerade der europäische Gesetzgeber sollte jedoch aufpassen, dass er durch vermeintliche Erleichterungen nicht zusätzliche Komplexität in die Kreditinstitute hineinträgt. Denn viele Vorschriften sind beispielsweise zunächst nur für ein halbes Jahr ausgesetzt. Das ist extrem kurz – vor allem, da niemand weiß, wie lange uns die Pandemie und die Folgen beschäftigen. Planbarkeit ist für Banken extrem wichtig, sie brauchen zumindest einen mittelfristigen Horizont. Das ist in der Vergangenheit nicht der Fall gewesen.
Wo wurde die Bankenregulierung seit der Finanzkrise 2008 verschärft?
Im Rahmen des Basel-III Regelwerks haben sich die Gesetzgeber vor allem auf zwei Bereiche konzentriert, sagt Professor Stephan Paul von der Ruhr-Universität Bochum. Erstens sind die erhöhten Eigenkapitalanforderungen zu nennen. Dadurch müssen Banken mehr Kapitalpuffer vorhalten. Berechnungen der Bundesbank zeigen laut Paul, dass die deutschen Kreditinstitute auf diese Weise ihr Eigenkapital seit der Finanzkrise durchschnittlich verdoppelt haben. Zweitens ist eine risikounabhängige Verschuldungsquote, die sogenannte Leverage Ratio, eingeführt worden. Ziel ist es, das Liquiditätsrisiko von Kreditinstituten zu minimieren. Daneben sind zahlreiche bereits bestehende Vorschriften verschärft worden. Zudem fokussieren sich die Aufseher zunehmend auf den Bereich Anleger- und Verbraucherschutz. Vorschriften wie MiFID II oder MiFIR haben die Anlageberatung deutlich verändert.
Die Kreditinstitute sollen nun den Neustart der Wirtschaft mit Krediten unterstützen. Dennoch plant der Gesetzgeber weitere bürokratische Vorgaben, die für Banken einen enormen Zusatzaufwand bedeuten können. Ein Beispiel ist die Forderung des Sustainable-Finance-Beirats der Bundesregierung nach umfangreichen Offenlegungspflichten zum Thema Nachhaltigkeit. Ist es zielführend, diese Pläne derzeit weiterzuverfolgen?
Paul: Wenn die Pläne vollumfänglich umgesetzt werden, reden wir von „Basel V“. Denn der Umfang würde dem der bisherigen Regulierungspakete gleichkommen. Dann müssten Kreditinstitute das Thema Nachhaltigkeit bei nahezu jeder Handlung prüfen, überwachen und kontrollieren. Das wäre ein sehr großer Aufwand. Auf der anderen Seite wird Nachhaltigkeit immer wichtiger, es liegt auch im Eigeninteresse von Kreditinstituten, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Die Frage sollte also lauten: Was können Banken selbst unternehmen, und in welcher Form sollte der Gesetzgeber Rahmenregeln verabschieden?
Was wäre Ihre Empfehlung?
Paul: Zunächst müssen wir uns mit dem Zeithorizont beschäftigen. Kreditportfolios von Kreditinstituten sind teils über Jahrzehnte entstanden. Da ist es nicht vorstellbar, von heute auf morgen das Thema Nachhaltigkeit stärker zu gewichten. Ansonsten müssten Banken beispielsweise etliche Kredite an ihre landwirtschaftlichen Kunden sofort kündigen. Das kann nicht Sinn der Sache sein. Dazu kommt: Im Risikomanagement fangen Kreditinstitute gerade erst an, entsprechende Verfahren zu entwickeln, mit denen sie prüfen können, wie nachhaltig ein Unternehmen agiert. Aus meiner Sicht braucht es folglich einen langen Zeithorizont, bis wir an eine harte Prüfung im Bereich Nachhaltigkeit überhaupt denken können. Ich ziehe gerne den Vergleich zur Pharmaindustrie: Die Hersteller dürfen kein Medikament auf den Markt bringen, bei dem sie nicht zuvor zahlreiche klinische Studien durchgeführt haben. Dementsprechend lassen sich auch aufsichtsrechtliche Maßnahmen im Rahmen von Simulationen auf ungewünschte Nebenwirkungen prüfen. Dazu kommt die aktuelle Corona-Situation. Um die Folgen der Pandemie für die Wirtschaft zu bewältigen, benötigen wir dringend ein funktionierendes Bankenwesen.
Die Bundesbank und die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) haben kommuniziert, dass sie keinen Spielraum für weitere Erleichterungen bei der Bankenregulierung sehen. Wäre es vor dem Hintergrund der aktuellen Erfahrungen im Rahmen der Corona-Pandemie nicht sinnvoll, die in den vergangenen Jahren erlassenen Vorschriften zumindest zu evaluieren?
Paul: Aus meiner Sicht ist es unbedingt notwendig, Regulierungsmaßnahmen in bestimmten Abständen auf den Prüfstand zu stellen. Der wissenschaftliche Beirat des Bundesfinanzministeriums, die Kollegen von SAFE (Sustainable Architecture for Finance in Europe) und auch wir von der Ruhr-Universität Bochum haben entsprechende Gutachten und Studien vorgelegt. Politik und Aufsicht sollten die Corona-Pandemie nutzen, die einzelnen Vorschriften und ihr Zusammenspiel in einem größeren Stil zu evaluieren. Auf diese Weise können sie prüfen, welche Vorschriften Sinn machen – und welche nicht.
Welche Vorschriften gehören aus Ihrer Sicht auf den Prüfstand?
Paul: Ich beobachte insgesamt die gefährliche Tendenz, dass die regulatorischen Vorschriften die Homogenisierung der Geschäftsmodelle befördern. Immer mehr Kreditinstitute sprechen dieselben Kundengruppen an, gewichten bestimmte Geschäfte gleich oder haben ein ähnliches Produktangebot. Ein Beispiel ist, dass zahlreiche Banken für die Refinanzierung Einlageprodukte auflegen, die in erster Linie auf die Liquiditätsdeckungsquote (LCR) ausgelegt sind. Somit entstehen Produktwelten aus gesetzlichen Vorgaben. Das ist aus systemischen Gründen ein Problem, denn wenn alle in die gleiche Richtung gehen, verwässert dieses Vorgehen das ausdifferenzierte Drei-Säulen-Modell, auf das wir in Deutschland zu Recht stolz sind.
„Der Gesetzgeber sollte das Prinzip der Proportionalität im Bankensektor stärken.“
Was kann der Gesetzgeber tun?
Paul: Er sollte den unterschiedlichen Marktantritt erhalten, indem er das Prinzip der Proportionalität im Bankensektor stärkt. Auf EU-Ebene gibt es immerhin erste Bestrebungen, die jedoch nicht weit genug gehen. Eine konkrete Maßnahme wäre zum Beispiel, dass Banken, die viel Eigenkapital vorhalten, von Pflichten im Meldewesen entlastet werden. Oder, dass bei ihnen die Prüfungsintensität nicht so hoch ausfällt.
Wie sähe aus Ihrer Sicht generell ein optimaler regulatorischer Rahmen aus, auch um das Wiederanlaufen der Wirtschaft zu unterstützen?
Paul: Perspektivisch muss der Gesetzgeber die Bankenregulierung weiterentwickeln. Mein Vorschlag wäre: Weniger quantitative Ziele und weniger Ad-hoc-Maßnahmen. Diese sind immer holzschnittartig und in gewisser Weise willkürlich. Sinnvoll wäre stattdessen ein einheitliches Konzept, welches auf qualitativen Zielen beruht. „Mehr Maßanzug, weniger Konfektionsware“ sollte das Motto lauten. Auf diese Weise würde es deutlich besser gelingen, die Risikomanagementsysteme krisenfest aufzustellen. Ein weiteres Ziel muss es sein, den Gedanken der Proportionalität konsequent weiterzuverfolgen. Dazu sollte der Gesetzgeber jede Regel daraufhin überprüfen, ob sie für alle Kreditinstitute nötig ist oder nur für international tätige Großbanken.
Herr Professor Paul, vielen Dank für das Gespräch!