Niedrigzinspolitik: Zum Start ihrer Präsidentschaft steht die neue EZB-Chefin Christine Lagarde im Spannungsfeld unterschiedlichster Erwartungen. Was kommt auf Sparer, Banken und Realwirtschaft zu?
Das Wichtigste zur deutschen EU-Ratspräsidentschaft
- Die an Angela Merkel und ihre Minister gerichteten Erwartungen sind hoch: Sie sollen federführend die Corona-Krise bewältigen und die Zukunftssicherung der Gemeinschaft vorantreiben.
- Einer der größten Streitpunkt dreht sich ums liebe Geld: Die EU-Kommission plant mit einem Haushalt über 1,1 Billionen Euro, zusätzlich möchte sie einen Wiederaufbau-Fonds in Höhe von 750 Milliarden Euro einrichten.
- An Projekten mangelt es nicht: Beispielsweise forciert die Kommission den „Green Deal“, damit der Kontinent bis 2050 klimaneutral wird. Weitere Ziele sind, die Medikamentenproduktion zurück nach Europa zu verlagern sowie massiv in die Digitalisierung zu investieren.
- Zudem kursieren in Brüssel Pläne für eine „grüne“ Finanzwirtschaft. Die Verquicking von Nachhaltigkeitszielen mit Bankenregulierung stößt jedoch auf vielfachen Widerspruch.
Wann auch immer in den vergangenen Wochen in Brüssel von der deutschen EU-Ratspräsidentschaft die Rede war, fehlte in keinem Satz das Wörtchen „eigentlich“. Denn „eigentlich“ wollte die Kommission schon im ersten Halbjahr eine Einigung zum gemeinsamen Sieben-Jahres-Haushalt der Europäischen Union finden. Und „eigentlich“ hätte der Green Deal samt Klimaneutralität bis 2050 im Mittelpunkt stehen sollen.
Doch dann kam das Virus. Plötzlich fanden sogar Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs nur noch virtuell statt. Das EU-Parlament hatte seinen vertraglich festgelegten Sitz in Straßburg ohnehin schon längst verlassen und tagte nur noch mit spärlicher Besetzung von gerade mal 50 Abgeordneten – der Rest saß zuhause vor dem Bildschirm. Die Geschäftsordnung musste geändert werden, weil virtuelle Abstimmungen bisher nicht als rechtsgültig galten. Mehr noch: Bei dem Versuch, den bereits fertigen Tagungskalender der Minister und Staatenlenker während des deutschen Ratsvorsitzes auf die neue Normalität der Online-Konferenzen umzustellen, registrierten die Berliner Diplomaten, dass Brüssel auf eine derartige Flut von Web-Treffen nicht vorbereitet war. Der deutsche EU-Botschafter Michael Clauß ließ irgendwann durchblicken, dass man im Ernstfall wohl mit 30 Prozent der ursprünglich geplanten Gesprächsrunden auskommen müsse. Ganz abgesehen davon, dass viele Online-Treffen als nur begrenzt produktiv empfunden wurden. Zitat eines deutschen Regierungsmitglieds: „Versuchen Sie mal, bei einem virtuellen Gespräch miteinander zu streiten…“
Etat in Billionen-Höhe geplant
Das ist angesichts der Jahrhundertaufgabe, die in diesen sechs Monaten von der Union bewältigt werden muss, kein Stein, sondern ein Felsbrocken, der im Weg liegt. Denn es geht um nicht weniger als die Zukunft dieser Gemeinschaft, die einerseits vor dem größten wirtschaftlichen Einbruch ihrer Geschichte steht und die andererseits einen massiven strukturellen und zusätzlichen ökonomischen Rückschlag durch die Folgen des Brexits Anfang des Jahres verkraften muss.
Der Etatentwurf der Europäischen Kommission für den siebenjährigen EU-Finanzrahmen mit 1,1 Billionen Euro bedeutet nicht nur eine deutliche Steigerung der Ausgaben, sondern auch höhere Beiträge, weil diese Summe nicht mehr von 28, sondern von 27 Mitgliedsstaaten aufgebracht werden muss. Hinzu kommt ein Wiederaufbau-Fonds, der – nach den Vorstellungen von Kommissionschefin Ursula von der Leyen – weitere 750 Milliarden Euro erfordert: 500 Milliarden Euro als nicht rückzahlbare Zuwendungen an die von der Pandemie am stärksten betroffenen Staaten, weitere 250 Milliarden Euro als Kredite. Aufgebracht würde das Geld von der Kommission selbst, die sich – mit den Mitgliedsstaaten als Bürgen im Rücken – am Finanzmarkt bedienen soll. Doch die Regierungen wissen, unterm Strich bedeutet dies zusätzliche Belastungen. Allein Deutschlands Überweisungen an die Union müssten im Jahr von 31 auf 44 Milliarden Euro steigen – ein Plus von 42 Prozent.
Man kann diese Zahlen auf zweierlei Weise lesen. In einem Fall entsteht dabei das Bild einer finanziell bis an die Grenzen strapazierten Gemeinschaft, die sich auf Generationen hinaus finanziell überschuldet und mit der Tilgung erst 2058 (für das Konjunkturpaket; 2027 für den Wiederaufbau-Fonds) fertig ist. Es hat einige Wochen gedauert, bis sich die Aufregung etwas gelegt hat und noch ein anderes Gemälde wieder vor dem geistigen Auge der handelnden Personen entstand: die Europäische Union auf dem Weg zur Klimaneutralität bis 2050. Schon bei den ersten Sitzungen in der Vor-Corona-Zeit war klar geworden, dass dieses ehrgeizige Ziel den Einsatz gewaltiger Finanzmittel erfordern würde, um eben diesen folgenden Generationen eine ökologische Wirtschaft hinterlassen zu können. Die Pandemie, so wurde mehr und mehr deutlich, soll jetzt dafür der Türöffner sein. Denn wenn man schon eine schwer beschädigte Wirtschaft wiederaufbauen muss, dann kann man sie gleich in der neuen Form entwerfen, so die Idee vieler EU-Politiker. Der Green Deal soll zur Blaupause der Schadensbeseitigung werden. Wie das funktionieren soll? Die Hoffnung ruht auf Deutschland, hierauf eine Antwort zu finden.
Medikamentenproduktion zurück nach Europa bringen, Digitalisierung massiv ausbauen
Das ist der Ausgangspunkt, wenn Angela Merkel und ihre Minister am 1. Juli den EU-Vorsitz übernehmen – und dann alle wesentlichen Ideen so zusammenfügen müssen, dass beides sichergestellt werden soll: Bewältigung der Krise und Zukunftssicherung. Das fängt bei den unmittelbaren Lehren aus der Krise an, als alle Mitgliedsstaaten verzweifelt nach dringend benötigter medizinischer Schutzausrüstung und Medikamenten suchten, die aber nur aus Fernost zu bekommen waren. So gehört die Rückverlagerung der Medikamentenproduktion nach Europa zu den Kernpunkten des Arbeitsprogramms. Die Digitalisierung soll massiv ausgebaut werden – der Schub kommt nicht nur durch die plötzlich so dringend benötigten Konferenzsysteme, sondern aus der Erkenntnis, dass man keine Corona-App ohne die Mitarbeit von US-Konzernen wie Google oder Apple „bauen“ konnte. Deutlicher wurde der verpasste Anschluss der Europäer auf einem Markt, den sie selbst als systemrelevant bezeichnen, selten sichtbar.
Europa steht, wenn Deutschland sein umgebautes, ambitioniertes Programm wirklich durchziehen kann, vor nicht weniger als einem Neuanfang. In der Landwirtschaft wird „Farm to Fork“ zum Grundprinzip einer neuen Agrarordnung, die schon bis 2030 mit 50 Prozent weniger Pflanzenschutzmittel und 20 Prozent weniger Dünger auskommen soll. Der Link zur Gesundheitspolitik liegt nach Angaben der zuständigen EU-Kommissarin Stella Kyriakides auf der Hand. Denn die intensive Tierhaltung fördert Antibiotikaresistenzen, die wiederum für 33.000 Tote pro Jahr in der EU verantwortlich gemacht werden.
„Nachhaltigkeit“ wird zum großen Stichwort nicht nur für Lebensmittelproduzenten, -Verarbeiter und -Anbieter. Biodiversität, also die Erhaltung der Artenvielfalt, avanciert zu einem festen Bestandteil der „Politik für und nicht gegen die Natur“. So definiert Brüssel die Zukunft mit Nachhaltigkeit – egal, ob es um den Verkehr, die Luftverschmutzung, die Produktion, die Kreislaufwirtschaft oder auch die Finanzpolitik geht. Als „grün“ sollen demnach nur Produkte gelten, die einen positiven Beitrag für den Klimaschutz leisten, ohne gleichzeitig in anderen Bereichen der Umwelt zu schaden („Do no significant harm“-Prinzip).
Mit ihren Kriterien für klimaverträgliche Investitionen („EU-Taxonomie“) hat die EU einen Grundstein für eine grünere Finanzwirtschaft bereits gelegt. Die unglückliche Verquickung von Nachhaltigkeitszielen mit der Bankenregulierung, die ja eigentlich der Finanzstabilität dient, stößt jedoch auf vielfachen Widerspruch. Denn die Einführung einer grünen Taxonomie im Finanzwesen führt nicht nur zu einer ausufernden Bürokratie, sondern sie bedeutet auch eine Abkehr von dem marktwirtschaftlichen Prinzip, wonach Investitionen an ihrer Wirtschaftlichkeit und ihrem Risiko gemessen werden sollen.
Erleichterungen für Kreditinstitute geplant
Neben diesen Reformen will die EU weitere finanzpolitische Vorhaben vorantreiben. In einem Bericht zur Kapitalmarktunion hat die EU-Kommission Vorschläge zur besseren Kreditversorgung der Unternehmen präsentiert, die der CSU-Europaabgeordnete Markus Ferber als „genau zur richtigen Zeit“ bezeichnete. Bereits umgesetzt ist der „Quick Fix“ der Eigenkapitalverordnung CRR, welcher die strengen Eigenkapitalanforderungen an die europäischen Banken in bestimmten Bereichen entschärft. So will Brüssel verhindern, dass die buchhalterischen Rückstellungen für erwartete Kreditausfälle das Eigenkapital der Banken reduzieren und diese am Ende ihre Kredite für den Mittelstand zurückfahren müssen. Das Prinzip heißt: Keine Auflagen einführen, die am Ende den Wiederaufbau behindern könnten.
Für alle diese Vorhaben – vom Wiederaufbau der europäischen Wirtschaft nach der Corona-Krise bis zur Einführung von Nachhaltigkeitszielen in allen Lebensbereichen – braucht Brüssel nicht nur einfach Geld, sondern vor allem demokratisch legitimierte Eigenmittel (alle nationalen Parlamente müssen zustimmen), um die zusätzlichen Belastungen für die Staaten nicht ins Uferlose wachsen zu lassen. Im Gespräch ist eine Plastiksteuer, auf die man allerdings kaum bauen kann, weil sie ja eigentlich zur Vermeidung (und damit zur eigenen Verminderung) beitragen soll. Klar ist dagegen, dass das Emissionshandelssystem (ETS) ausgebaut werden wird – auf den Flug- und auch den Schiffsverkehr.
Welche dieser Vorstöße am 31. Dezember 2020, wenn Deutschland die Ratspräsidentschaft der EU an Portugal weitergibt, auf der „Haben“-Seite stehen, ist natürlich offen. Denn über allen Plänen schwebt das Damoklesschwert der noch ausstehenden Einigung über den mittelfristigen Finanzrahmen und den Wiederaufbau-Fonds.
Detlef Drewes lebt seit 14 Jahren in Brüssel. Er ist freiberuflicher Auslandskorrespondent für mehrere deutschsprachige Tageszeitungen, unter anderem die „Augsburger Allgemeine“, das „Straubinger Tagblatt“ und die „Nürnberger Nachrichten“.