Plattformökonomie: Immer mehr Geschäftsbeziehungen laufen online ab. Welche Rolle da noch persönliche Kontakte und räumliche Nähe spielen, erklärt der Digitalexperte Nicholas Müller.
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Seit einigen Jahren rücken Plattformgeschäftsmodelle aufgrund ihrer Marktkapitalisierung und damit ihrer Marktmacht immer mehr in das Licht der Öffentlichkeit. Sieben der zehn wertvollsten börsennotierten Unternehmen der Welt arbeiten inzwischen nach diesen Modellen. Die Plattformgeschäftsmodelle verändern grundlegend die ökonomischen Prinzipien sowie das Interaktions- und Kommunikationsverhalten der Märkte und der Unternehmen.
Neben den Auswirkungen auf die Gesellschaft oder den Arbeitsmarkt rücken die Effekte der Plattformen auf Volkswirtschaft und Unternehmen in den Fokus. Nach unseren Berechnungen bringen die 100 wertvollsten Plattformen der Welt zum Stichtag 31. Mai 2019 zusammen einen Wert von 7,3 Billionen Dollar auf die Waage. 68 Prozent dieser Summe entfällt auf 37 Plattformen aus Amerika, vor allem natürlich den USA. Weitere 27 Prozent der Werte haben Unternehmen aus dem Raum Asien-Pazifik geschaffen, verteilt auf 28 Unternehmen. Aus Europa haben es 19 Unternehmen in die Liste der Top 100 geschafft. Sie erreichen allerdings zusammen nur einen Wertanteil von knapp 4 Prozent.
Global und vor allem in Europa und Deutschland stellt sich die Situation mannigfaltig dar. Während in den vergangenen Jahren die globalen Konsumentenplattformen die Märkte in Europa nahezu vollumfänglich erobert haben, gab es einige deutsche Plattformen, wie die von Rocket Internet finanzierten Unternehmen Delivery Hero und Home24 oder die Reiseplattform Trivago, die sich durchaus in Nischenmärkten etablieren konnten.
Vielversprechende Ansätze auch in Deutschland
Nur noch einzelne Nischenbereiche des B2C-Umfelds sind derzeit nicht von Plattformen erobert. Die B2B-Plattformen befinden sich allerdings noch in der Anfangsphase. Einige Plattformen wie Alibaba, die ihren Ursprung im B2B-Geschäft hatten, sind bereits in andere Märkte vorgedrungen. Etablierte B2C-Plattformen wie Baidu, Tencent oder Amazon haben in den letzten vier bis fünf Jahren immer mehr das B2B-Geschäft ausgeweitet. Die zuletzt von Bitkom durchgeführte Repräsentativumfrage in Deutschland zeigt allerdings, dass 55 Prozent der befragten Industrieunternehmen in Deutschland den Plattform-Begriff nicht kennen; weitere 29 Prozent haben Plattformen für sich als irrelevant eingestuft.
Spannend sind dennoch die jüngsten Aktivitäten einiger deutscher Unternehmen in diesem Umfeld. Konzerne wie Allianz, Daimler, Volkswagen, BMW, Bosch und Lufthansa haben in den vergangenen ein bis zwei Jahren ihre Plattformen-Aktivitäten verstärkt. Neben diesen Konzernen haben vor allem in Süddeutschland Mittelständler einige vielversprechende Plattformen gestartet, wie zum Beispiel Wucato aus Stuttgart (Online-Beschaffungsplattform), axoom aus Karlsruhe (Industrie 4.0-Plattform) oder Klarx aus München (Baumaschinenplattform).
Die Besonderheiten der Plattformgeschäftsmodelle
Die ökonomischen und betriebswirtschaftlichen Effekte liegen vor allem in einer Änderung der Marktmechanismen, was in der Regel zu einer Verlagerung der Handelsplätze und damit auch des Kapitals führt. Das Ergebnis sind erhebliche Verschiebungen des Wohlstands, vor allem in die Länder der Plattformbetreiber wie die USA oder China. Denn mit jeder Transaktion fließt ein Teil der Transaktionssumme direkt in die Bücher der Plattformbetreiber. Durch diese Verlagerung hat sich seit einigen Jahren neben den klassischen Marktmechanismen eine Marktmetastruktur der Plattformökonomie etabliert. Gut sichtbar ist dies bereits im Plattform-Index der 15 wichtigsten Plattform-Aktien, die sich als „Category-Winner“ in der Plattform-Welt durchsetzen konnten. Dieser Index wird seit August 2016 berechnet, hat seitdem signifikant an Wert gewonnen und die Standard-Indizes DAX, Dow Jones und Nasdaq Composite klar geschlagen.
Entscheidend sind die Unterschiede zu den klassischen linearen Geschäftsmodellen. Diese Modelle basieren in der Regel darauf, dass ein Anbieter ein Produkt oder einen Service direkt dem Kunden verkauft. Diese Modelle haben keinen dynamischen Ökosystem-Einfluss und leiden unter einem starken Wettbewerb. Um sich gegenüber der Konkurrenz zu positionieren, sind hohe Investitionen in Produkt, Marktforschung oder Kundenbedarfsanalyse notwendig. Im Windschatten dieser linearen Geschäftsmodelle haben sich seit Ende der 1990er-Jahre drei Plattformgenerationen entwickelt, die immer größere Teile der Wertschöpfung absorbieren.
Die drei Plattformgenerationen
Seit 2014 etabliert sich die dritte Generation der Plattformökonomie. Die Charakteristiken – zusätzlich zu den Eigenschaften der ersten Generation (Marktplätze mit Angebot und Nachfrage ohne intelligente Interaktionen und nach dem Prinzip der kritischen Masse) und der zweiten Generation (Share Economy: Fokus auf intelligente Interaktionen zwischen Angebot und Nachfrage beziehungsweise Teilung von Ressourcen, Kapazitäten und Fähigkeiten) – sind vor allem die vollständige Monetarisierung der Informationen, die Analyse dynamischer Ökosysteme und die Ableitung neuer Ansätze für die Ausgestaltung der Ökosysteme und Netzwerkeffekte auf Basis komplementärer Allianzen.
Durch die Nutzung der Informationsökonomie, dynamischer Ökosysteme und Allianzen existieren keine monothematischen Einschränkungen, und damit sind in jeder Hinsicht Diversifizierungen weitaus einfacher zu etablieren. Die Plattformen der dritten Generation sind damit in der Lage, neue Märkte zu modellieren und bestehende Mechanismen zu verändern. Vor allem haben sie einen starken Fokus auf die Generierung von Netzwerkeffekten durch mehr Partner sowie deren Kunden beziehungsweise durch Partner und die Erweiterung des Portfolios.
Heute stehen Plattformen an der Schwelle zur vierten Generation. Zusätzlich zu den Eigenschaften der dritten Generation kommen strategische Entscheidungen wie die Einführung von API-Schnittstellen (Application Programming Interface), die das Geschäftsmodell verändern und gleichzeitig dessen Kern schützen. Über die Schnittstellen können Entwickler und Geschäftspartner neue Features und Microservices implementieren und etablieren. Bei einigen Plattformen wird diese Strategie auf Basis einer Umwandlung des Unternehmens oder der Services beschleunigt, zum Beispiel in Form einer konsequenten API-Strategie als Bestandteil der Unternehmensstrategie.
Solche Effekte führen dazu, dass die Marktteilnehmer ihre benötigten Probleme, Bedarfe oder Geschäftsvorfälle mit selbst entwickelten Features lösen können. Kunden und Entwickler definieren, wie sich die Zukunft der Plattform gestaltet. Plattformbetreiber müssen ihre Kunden nicht mehr fragen, was sie wollen. Die konsequente Nutzung von Künstlicher Intelligenz wird bei den Plattformen der vierten Generation eine immer größere Rolle spielen, um multidimensionale Netzwerkeffekte zu erzielen.
Genossenschaftliche Ökosysteme nutzen
Auch bei Genossenschaften sind unterschiedliche plattformökonomische Szenarien und Geschäftsmodelle denkbar. Die Stärke der genossenschaftlichen Ökosysteme könnte dazu genutzt werden, um mit Partnern Netzwerkeffekte zu erzielen und schneller zu wachsen. Bei solchen Allianzmodellen werden die Eigenschaften von Teilung und Interaktion weiter genutzt und um zwei essenzielle Regeln erweitert:
- Mehr Partner bedeuten mehr indirekte Kunden, was äquivalent zum Marktanteil ist. Je mehr Marktanteil, umso mehr Interaktion entsteht.
- Je mehr komplementäre Partner, umso größer ist das Portfolio an Service-Angeboten und Bedarfsabdeckung, und umso mehr steigt die Interaktion und erhöht den Netzwerkeffekt.
Ansätze für Plattformstrategien
Plattformen mit Fokus auf Teilung der Ressourcen und Fähigkeiten
Hier bilden komplementäre Partner eine Allianz, um folgende Kernelemente zu bündeln und zu teilen: Ressourcen und Fähigkeiten zum Beispiel in den Bereichen Vertrieb, Bezahllösungen, Finanzen und Buchhaltung, Versicherungsleistungen, Personalwesen, Immobilienverwaltung, Energiedienstleistungen oder sonstige Dienstleistungen.
Plattformen mit Fokus auf Produkt- und Serviceallianzen
Allianzplattformen ergänzen Produkte und Services der Ökosystempartner komplementär miteinander. Der Plattformbetreiber ermöglicht es den Ökosystempartnern, ihre Produkte und Services gezielt über die Plattform miteinander zu kombinieren und ihren Kunden anzubieten. Beispiele dafür sind unter anderem die Verbindung einer Baufinanzierungsleistungen mit Versicherungsleistungen oder die Zusammenarbeit mit dem Bauherrn.
Plattformen mit Fokus auf Veränderung der Marktmechnaismen
Diese Plattformen zielen vorrangig auf die Verlagerung der Interaktions- und Handelsmechanismen ab: Der Plattformbetreiber führt Ökosystempartner zusammen, die über Marktmacht und hohen Kundenzugang verfügen. Die Zusammenführung solcher Allianzpartner erweitert den Marktzugang und die Anzahl der indirekten Kunden für die Ökosystempartner noch weiter. Ein Szenario kann zum Beispiel eine Kooperation von Energiedienstleistern, Immobilienverwaltern oder Banken sein, um so die jeweiligen Kunden und die entsprechenden Handelsvolumen auf die Plattform zu verlagern und von der gemeinsamen Kundenbasis zu profitieren.
Plattformen mit Fokus auf Regionalität und Kundennähe
Regionale Plattformen können vor allem die Nischenmärkte sehr gut bedienen und die Kundennähe aus der klassischen Offline-Welt oder den stationären Kundenkontaktpunkten (zum Beispiel der Bankfiliale oder dem Einzelhandelsgeschäft) mit der Welt der Online-Plattformen verbinden. So kann zum Beispiel die regionale Verwurzelung dazu genutzt werden, Kunden für die Online-Plattform zu gewinnen oder diesen dort zusätzliche Dienstleistungen anzubieten. Über die Plattform lassen sich dann auch wieder klassische Kundenkontakte in der Offline-Welt herstellen. Diese Möglichkeiten stehen derzeit großen globalen Plattformen nur eingeschränkt oder kaum zur Verfügung. Regionale Anbieter haben hier also einen Wettbewerbsvorteil. Beispielsweise können lokale und/oder regionale Dienstleister, Handwerksunternehmen, Energiedienstleister und Händler in einer regionale Handels- und Ökosystem-Plattform die Vorteile der Kundennähe gemeinsam nutzen, ihre Dienstleistungen miteinander kombinieren und mit den Finanzgeschäften der Kunden verbinden.
Zusammengefasst bieten Plattformen für Kunden wie für die angeschlossenen Ökosystempartner eine Reihe von Mehrwerten. So sorgen sie bei unbekannter oder zu hoher Markt- und Preiselastizität für Transparenz (Markttransparenz, Leistungstransparenz, Qualitätstransparenz und Preistransparenz). Außerdem bieten sie einen hohen Nutzen durch Netzwerkeffekte, was allerdings für Plattform-Verweigerer zum Verlust der Kundenbeziehung führen kann und daher ein hohes Disruptions-Potenzial für bestehende Strukturen aufweist. Darüber hinaus ermöglichen Plattformen neue Services und Geschäftsmodelle. Nicht zuletzt senken Plattformen Interaktions- und Transaktionskosten, weil die Kosten der Geschäftsanbahnung sinken und Standards die Kommunikation beziehungsweise die Abwicklung der Transaktion vereinfachen.
Herausforderungen für mittelständische Unternehmen
Andererseits sind auch die Herausforderungen gerade für die mittelständischen Unternehmen, die ein Netzwerk aufbauen wollen, sehr umfangreich. So werden wesentliche Wertschöpfungs- und Umsatzanteile in das Netzwerk verschoben, während gleichzeitig der Preisbildungsmechanismus und die Zahlungsbereitschaft der Kunden für digitale Services in den meisten Segmenten unklar sind. Außerdem werden die Unternehmen mit völlig neuartigen Know-how-Anforderungen im Vergleich zum Kerngeschäft konfrontiert, indem sie digitale Services, Apps und Geschäftsmodelle entwickeln müssen. Zudem erhöhen Plattformen den Wettbewerbsdruck im Banking aufgrund neuer Differenzierungsmöglichkeiten. Nicht zuletzt erzeugt die Komplexität der B2C- und B2B-Landschaft eine Vielzahl von Plattformen – mittel- bis langfristig ist jedoch eine Konsolidierung innerhalb von Industriezweigen und Branchen zu erwarten.
Trotzdem können sich auch kleine Unternehmen mithilfe intelligenter Plattform-Ökosysteme und dem Aufbau von Netzwerken neue Märkte und Geschäftsmodelle erschließen und so die Branche maßgeblich gestalten. Dabei werden möglicherweise Geschäftsfelder ersetzt, verändert oder erneuert. Hierbei gibt es sowohl Chancen als auch Risiken. Für die Umsetzung kommen für mittelständische Unternehmen folgende Modelle infrage:
- Ein eigenes regionales Plattformgeschäftsmodell aufbauen: Das ist empfehlenswert für Unternehmen, die als Plattforminitiator und Vorreiter auf dem Markt Plattformmodelle etablieren wollen. In der Regel hängt der Erfolg von der Finanzkraft des Plattforminitiators ab. Plattformgeschäftsmodelle benötigen in der Regel mindestens ein bis zwei Millionen Euro Investitionen pro Jahr. Sofern sich bei einem Plattformgeschäftsmodell in den ersten zwei bis drei Jahren positive Tendenzen aufzeigen (zum Beispiel steigende Partner- und Kundenzahlen und damit eine Steigerung der Interaktionen und Netzwerkeffekte), sollten weitere Investitionen in Markerweiterung oder Etablierung neuer Services, Features oder Produkte investiert werden.
- Eine regionale Plattform mit weiteren Partnern aufbauen: Dieses Modell ist geeignet für Plattforminitiatoren, die im Vorfeld komplementäre Elemente miteinander verbinden und eine gemeinsame Strategie verfolgen. Für kleinere regionale Anbieter könnte dieses Szenario eine gute Möglichkeit der Umsetzung darstellen. Hierbei empfiehlt es sich, dass sich der Plattforminitiator im Vorfeld Gedanken zur Strategie und Agenda macht, bevor er die weiteren Kooperationspartner einbindet. Die Entwicklung einer komplett neuen Strategie zwischen den unterschiedlichen Initiatoren kann sehr zeitaufwendig und durchaus von Interessenkonflikten behaftet sein, wenn im Vorfeld die Eckpfeiler der Strategie vom Initiator nicht festgelegt wurden.
- Bestehende Plattformen als Absatzkanal nutzen: Grundsätzlich sollte jedes Unternehmen in Erwägung ziehen, die existierenden Plattformen als einen weiteren Absatzkanal zu nutzen. Die Preisgabe von Kundendaten, Verkaufszahlen und Interaktionen gegenüber der Plattform birgt jedoch auch Gefahren. Diese Alternative empfiehlt sich daher vorwiegend für Kleinstunternehmen, die sonst keine Möglichkeit sehen, ihre Produkte oder Dienstleistungen über die Marktmetastruktur der Plattformen anzubieten.
Plattformen bieten also Chancen, klassische Geschäftsmodelle zu ergänzen und innerhalb einer Branche zum Nutzen aller zusammenzuarbeiten. Wer früh damit beginnt, hat bessere Chancen, um den Veränderungen der Märkte aktiv entgegenzutreten und diese mitzugestalten.
Hamidreza Hosseini ist Experte für Plattformökonomie und digitale Geschäftsmodelle. Nach 20 Jahren Berufserfahrung gründete er 2016 die Ecodynamics, um Unternehmen bei Fragen der digitalen Geschäftsmodelle und Ökonomie zu unterstützen. Sein Wissen zu Plattformen erwarb er unter anderem am renommierten Massachusetts Institute of Technology (MIT) und beim Inkubator Y Combinator. Zudem ist er Dozent an der WHU für Plattformökonomie und Digitalisierung und hält zusätzlich Vorträge als Keynote Speaker und Workshops. Außerdem publiziert er regelmäßig zu Plattformthemen (unter anderem auf dem Blog Platformeconomy.com). Aktuell führt er mit seinem Team eine Studie zum Stand der Plattformökonomie in den deutschen Unternehmen durch.