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Herr Dr. Gros, das Jahr 2018 ist vollgepackt mit Jubiläen wie 100 Jahre Freistaat Bayern oder 200 Jahre Raiffeisen. Wird der 125. Geburtstag des Genossenschaftsverbands Bayern (GVB) angesichts dieser Konkurrenz ausreichend gewürdigt?

Jürgen Gros: Selbstverständlich. Wir sehen die genannten Jubiläen als Bereicherung, nicht als Konkurrenzveranstaltungen. Raiffeisen ist einer der Gründerväter des Genossenschaftswesens. Seine zeitlosen Ideen von Selbsthilfe und Eigenverantwortung sind eine wesentliche Grundlage für die Existenz des GVB. Und natürlich würdigen wir auch den Geburtstag des Freistaats. Schließlich bietet Bayern den 1.260 im GVB zusammengeschlossenen Genossenschaften und ihren 2,9 Millionen Mitgliedern eine lebenswerte Heimat.
 

Wie feiert der GVB seinen eigenen Geburtstag?

Gros: Wir feiern unser Jubiläum im Rahmen des diesjährigen Verbandstags. Auf diesen Termin am 12. Juli in Unterschließheim fiebern wir schon lange hin. Zur Einstimmung hatten wir bereits zu Jahresbeginn
mit großen Plakaten an der Fassade des Verbandsgebäudes auf den Geburtstag aufmerksam gemacht. Und wir werden eine Chronik  des GVB veröffentlichen, die der Historiker Reinhard Heydenreuter verfasst hat.
 

Worauf dürfen sich die Besucher des Verbandstags freuen?

Gros: Der Verbandstag des GVB ist ein Netzwerktreffen der mittelständischen bayerischen Wirtschaft. Viele Vertreter der Mitgliedsgenossenschaften werden dabei sein, ebenso Verbund- und Kooperationspartner, politische Entscheider oder Journalisten. Alles in allem erwarten wir mehr als 1.000 Gäste. Ministerpräsident Markus Söder wird ein Grußwort halten. Im Anschluss werden wir auf dem Podium mit dem Präsidenten des ifo-Instituts, Clemens Fuest, und mit dem Vorstandsvorsitzenden der DZ Bank, Wolfgang Kirsch, über die richtigen Rahmenbedingungen für mittelständische Unternehmen diskutieren.
 

Lassen Sie uns über die GVB-Geschichte sprechen und die von Ihnen erwähnte Chronik. Haben Sie das Buch schon gelesen?

Gros: Natürlich, sogar mehrfach – und ich bin begeistert. Die bayerische Genossenschaftsgeschichte wird sehr lebendig erzählt und in die Historie des Freistaats eingebettet. Die Texte sind mit zahlreichen Abbildungen von Dokumenten und Bildern angereichert. Viele davon lagern im Archiv unseres Historischen Vereins und wurden in dieser Form noch nie gezeigt. Das macht unser Geschichtsbuch nicht nur anschaulich, sondern auch einzigartig.

„Geburtshelfer waren damals Personen mit ganz unterschiedlichem Hintergrund. Kaufleute waren unter ihnen, Landwirte, Lehrer oder Geistliche.“

Die Geschichte des GVB beginnt am 28. November 1893. Damals fand in München die Gründungsversammlung für den „Bayerischen Landesverband landwirtschaftlicher Darlehenskassenvereine“, eine Vorgängerorganisation des Genossenschaftsverbands Bayern. Welchen Stellenwert hat dieser Tag für Sie?

Gros: Es ist der Geburtstag unserer Organisation. Geburtshelfer waren damals Personen mit ganz unterschiedlichem Hintergrund. Kaufleute waren unter ihnen, Landwirte, Lehrer oder Geistliche. Angetrieben hat sie die Absicht, einen eigenständigen bayerischen Landesverband als Dienstleister für die Genossenschaften aufzubauen. Die Gründer wollten die "bayerischen Dinge selbst regeln" und grenzten sich bewusst vom damaligen Zentralverband in Neuwied ab. Unterstützt hat sie auf diesem Weg die Staatsregierung, die eigens den Innenminister zur Gründungsversammlung schickte. In ihrem Interesse war es, das Genossenschaftswesen als Stütze der Landwirtschaft zu fördern.
 

Das eigene Ding machen: Wie wichtig ist das damalige Selbstverständnis der Gründer heute für den GVB?

Gros: Sehr wichtig. Es ist bis heute fester Bestandteil unserer Identität als Dienstleister der Genossenschaften im Freistaat und entspricht dem genossenschaftlichen Prinzip der Eigenverantwortung. Die bayerischen Genossenschaften als regional verwurzelte Heimatunternehmen wollen das so. Und das hat einen berechtigten Grund: Ein Verband, der nahe an seinen Mitgliedern ist, bekommt mit, was sie bewegt. Und der GVB ist auch räumlich nahe dran. Ich könnte mich jetzt ins Auto setzen und selbst die entlegenste bayerische Genossenschaft in einer vertretbaren Zeit erreichen, um beispielsweise deren Vertreter- oder Mitgliederversammlung zu besuchen. Hinzu kommt, dass wir in Bayern auf ein über Jahrzehnte gewachsenes Netzwerk bauen können. Die Mitarbeiter des GVB kennen die Ansprechpartner bei unseren Mitgliedern, aber auch bei Politik und Behörden. Da geht manche Tür schneller auf. So wird Nähe zur Stärke und Vertrauen entsteht.

Gründungsprotokoll, Bayerischen Landesverbands landwirtschaftlicher Darlehenskassenvereine
In Kurrentschrift: Auszug aus dem Gründungsprotokoll des „Bayerischen Landesverbands landwirtschaftlicher Darlehenskassenvereine“ vom 28. November 1893.
Gründungsprotokoll, Bayerischen Landesverbands landwirtschaftlicher Darlehenskassenvereine
Zum Nachlesen: Die wesentlichen Stellen des Gründungsprotokolls.

„Der GVB setzt sich seit 125 Jahren tagtäglich für die Anliegen der bayerischen Genossenschaften ein. Das ist unser Auftrag.“

In der Chronik werden neben der Verbandsgründung viele weitere Meilensteine der Genossenschaftsgeschichte dargestellt. Welche halten Sie für herausragend?

Gros: Das Inkrafttreten der Bayerischen Verfassung am 1. Dezember 1946. Damals wurde in Artikel 153 die Bedeutung des Genossenschaftswesens für die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung des modernen Bayern festgeschrieben. Was das in der Praxis bedeutet, zeigte sich in den nachfolgenden Wirtschaftswunder-Jahren. Zum Beispiel weiteten die bayerischen Volksbanken und Raiffeisenbanken damals die Kreditvergabe an Mittelstand und Privatkunden kontinuierlich aus und finanzierten so den Wiederaufbau in Bayern mit. Auf diese Weise legten sie die Basis für Wachstum und Beschäftigung. Bis  heute sind die Volksbanken und Raiffeisenbanken ein zuverlässiger Partner der regionalen Wirtschaft im Freistaat. Ein weiterer wichtiger Meilenstein in der GVB-Geschichte war zudem die Verbändefusion 1989. Damals schlossen sich der Bayerische Raiffeisenverband und der Bayerische Genossenschaftsverband zum GVB zusammen, so wie wir ihn heute kennen.

Der GVB ist nicht nur Prüfungsverband der bayerischen Genossenschaften. Er berät sie auch in steuerlichen oder rechtlichen Fragen, er bildet ihre Mitarbeiter weiter und vertritt ihre Interessen. Diese Aufgaben sind in der Verbandssatzung verankert. Hat sich das Leistungsprofil in der 125-jährigen Geschichte gewandelt?

Gros: Damals wie heute sind wir Prüfer, Berater und Interessenvertreter unsere Mitglieder. Anders gesagt: Der GVB setzt sich seit 125 Jahren tagtäglich für die Anliegen der bayerischen Genossenschaften ein. Das ist unser Auftrag. Gewandelt haben sich die Rahmenbedingungen unserer Arbeit. Und die Interessenvertretung hat in den vergangenen Jahren erheblich an Stellenwert dazugewonnen - sowohl gegenüber Politik und der Öffentlichkeit als auch gegenüber dem genossenschaftlichen Verbund. Gegenüber der Politik ist es wichtig, verlässliche Finanzierungsbedingungen für den Mittelstand einzufordern. Und auch in unserem Verbund ist es von Zeit zu Zeit notwendig, auf die Belange der bayerischen Genossenschaften zu hinzuweisen.
 

Wie gehen Sie als Regionalverband damit um, dass immer mehr Gesetzesvorhaben auf EU-Ebene ihren Anfang nehmen?

Gros: Was die Bankenregulierung anbelangt, ist Brüssel oftmals der Startpunkt. Der GVB behält das dortige politische Geschehen zusammen mit den genossenschaftlichen Bundesverbänden im Blick, um zeitnah auf neue Initiativen reagieren zu können. Allerdings beobachten wir auch die nationale Gesetzgebung, um eine unnötige Verschärfung europäischer Vorgaben zu thematisieren. „Goldplating" nennen das Fachleute. Ein unrühmliches Beispiel dafür war 2016 das missglückte deutsche Umsetzungsgesetz zur europäischen Wohnimmobilienkreditrichtlinie, das stellenweise über die Vorgaben aus Brüssel hinausging. Nachdem der GVB und andere Verbände auf massive Probleme bei der Kreditvergabe hingewiesen hatten, wurde das Gesetz nach nur einem Jahr korrigiert. Einen solchen Einsatz auf nationaler Ebene zeigt die GVB-Interessenvertretung übrigens auch, wenn es um Themenfelder wie Energie oder Landwirtschaft geht. In den vergangenen Monaten hat sich der GVB zum Beispiel wiederholt gegen Eingriffe in die Lieferbeziehungen von Molkereigenossenschaften ausgesprochen.

„Diese Vielfalt hat es immer schon gegeben. Sie ist ein Wesensmerkmal genossenschaftlichen Engagements.“

Wir haben darüber gesprochen, was der GVB leistet. Wie hat sich in der Verbandsgeschichte die Struktur der Mitglieder entwickelt?

Gros: Der GVB umfasst heute 244 Volksbanken und Raiffeisenbanken sowie mehr als 1.000 ländliche und gewerbliche Genossenschaften. Gemeinsam bereichern sie die Wirtschaft im Freistaat in 35 Branchen. Diese Vielfalt hat es immer schon gegeben. Sie ist ein Wesensmerkmal genossenschaftlichen Engagements. Allerdings gab es in den vergangenen Jahrzehnten laufend Veränderungen in der Mitgliederstruktur des GVB, auch weil sich Bayern von einem Agrarland zu einem europäischen Wirtschaftszentrum entwickelt hat. Deshalb gehören heute zusätzlich zu den erfolgreichen landwirtschaftlichen Unternehmen wie Molkereien und Raiffeisen-Warenunternehmen auch IT- und Beratungsfirmen zu unserem Verband. Neben dem wirtschaftlichen Strukturwandel im Freistaat haben auch Gesetzesänderungen und der technische Fortschritt Geschäftsmodelle verändert oder manchmal obsolet gemacht. Es gibt zum Beispiel keine Kühlhausgenossenschaften mehr in Bayern, die früher weit verbreitet waren. Sie waren schlicht nicht mehr notwendig, als in den 50er- und 60er-Jahren Kühlschränke in die Privathaushalte Einzug hielten.

Datev eG, Standorte, Nürnberg, Fürter Straße.
Mitglieder des GVB: Der IT-Dienstleister Datev - auf dem Bild ist die Nürnberger Zentrale zu sehen - gehört genauso zum Verband wie ... Foto: DATEV eG.
Molkerei Berchtesgadener Land.
... die Molkerei Berchtesgadener Land, die sich in ihrer Heimatregion für den Erhalt kleinbäuerlicher Strukturen einsetzt. Foto: Molkerei Berchtesgadener Land
Raiffeisen Ware Schwaben Allgäu GmbH
Ein Standort der Raiffeisen Ware Schwaben Allgäu GmbH: Die Raiffeisen-Warenunternehmen sind wichtige Partner der Landwirte und ebenfalls beim GVB als Mitglieder vertreten. Foto: Raiffeisen Ware Schwaben Allgäu GmbH

Alte gehen, dafür kommen junge: Der GVB berichtet regelmäßig über neu gegründete Genossenschaften...

Gros: Ja, so gab es im vergangenen Jahr 19 Neugründungen. Die Bürger in Bayern nutzen das genossenschaftliche Modell, um Bedürfnislücken in ihrer Region zu schließen. In den vergangenen Jahren sind Dutzende neue Energiegenossenschaften entstanden, die sich für eine dezentrale Strom- und Wärmeversorgung auf Basis regenerativer Energien stark machen. Auch Dorfwirtschaften, neue Wassergenossenschaften, Brauereigenossenschaften oder Gesundheits- und Sozialgenossenschaften haben sich in den vergangenen Jahren gegründet. Das zeigt, wie vielseitig und modern das Genossenschaftsmodell ist. Der GVB ist auch 125 Jahre nach seiner Gründung gefragt, diese Vorhaben beratend zu begleiten.

Herr Dr. Gros, vielen Dank für das Gespräch!

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