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Die EU steht nach der Zeitenwende vor großen Herausforderungen: Die grüne und digitale Transformation, geopolitische Konflikte, Migrationsströme, Demografie-bedingter Fachkräftemangel sowie industriepolitische Subventionswettläufe sind nur einige davon. Vor diesem Hintergrund braucht es in einigen Grundzügen der EU-Wirtschaftspolitik ein Umdenken.

Die ablaufende Legislatur des Europäischen Parlaments und der Europäischen Kommission waren geprägt vom Klimaschutz, der Corona-Krise sowie dem russischen Angriffskrieg, der auch auf das Verhältnis zu China ausstrahlt und die Systemrivalität mit diesen Autokratien beispielhaft illustriert. Mit Blick auf den Green Deal und das Thema Nachhaltigkeit hat Europa in den letzten fünf Jahren Enormes auf den Weg gebracht. Vieles davon geschah aus einer traditionell empfundenen Position der Stärke gemäß dem Motto: Wir können es uns leisten, der Welt ein Vorbild beim Klimaschutz zu sein, und wir sind gleichzeitig bedeutsam und wirkmächtig genug, unseren Partnern im globalen Süden auch Standards für Nachhaltigkeit und Menschenrechte vorzugeben.

Darüber geriet bedauerlicherweise in Vergessenheit, dass unsere vormaligen Stärken in den letzten fünf Jahren gelitten haben. Die Corona-Krise, die Energiekrise und auch die Herausforderungen der grünen Transformation stellen erhebliche Herausforderungen für unsere Wirtschaft dar. Auch aus diesen Gründen war das Wachstum in der EU schwächer als in vielen anderen Regionen. Europa steht somit für einen schrumpfenden Anteil an der globalen Wirtschaftsleistung und Bevölkerung. Das mindert auch die Strahlkraft der europäischen Werte.

„Die europäischen Unternehmen sollten nicht immer neue Formulare ausfüllen müssen, sondern an ihrer Produktivität und Innovationskraft arbeiten können.“

Wer trotzdem mit dem erhobenen Zeigefinger des Oberlehrers seine Standards den Partnern im globalen Süden oktroyieren will, dem wird die Tür bei Verhandlungen über Freihandelsabkommen womöglich zugeschlagen. Wer trotzdem das Transformationstempo weiter forciert, riskiert, dass die EU beim Klimaschutz nicht mit gutem, sondern mit schlechten Beispiel vorangeht – und damit die Nachahmer ausbleiben. Wer trotzdem die europäischen Unternehmen mit immer mehr Nachhaltigkeits-Berichtspflichten belastet, muss sich nicht wundern, dass die Wirtschaft weiter schwächelt. Die europäischen Unternehmen sollten nicht immer neue Formulare ausfüllen müssen, sondern an ihrer Produktivität und Innovationskraft arbeiten können.

Diese Zielkonflikte dürfen in der nächsten Legislatur nicht länger unter den Tisch gekehrt werden. Sie müssen offen diskutiert werden und in einer anderen Priorisierung der Ziele münden. Es braucht vor allem eine Rückbesinnung auf unsere Stärken und damit auf die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft. Das fängt bei der Entlastung bei neuen Bürokratiepflichten an, geht über eine Stärkung von Bildung und Forschung und reicht bis zum weiteren Ausbau des Binnenmarkts. Zu diesem Themen liegen bald zwei Berichte namhafter Politiker vor. Richtigerweise wird zum Beispiel gefordert, die grenzüberschreitende Verkehrs- und Energieinfrastruktur in der EU auszubauen und die Kapitalmarktunion weiter zu vertiefen.

In die falsche Richtung gehen jedoch Forderungen nach noch mehr industriepolitischer Förderung der grünen Transformation und einer falsch verstandenen strategischen Autonomie mit schuldenfinanzierten Subventionen auf EU-Ebene. Im EU-Förderprogramm „NextGenerationEU“ sind noch viele Mittel für die grüne und digitale Transformation vorhanden. Deren Nutzungsmöglichkeit kann auch über 2026 hinaus verlängert werden, falls sie bis dahin nicht vollständig abgerufen sind. Zudem ist zu berücksichtigen, dass die Gelder in vielen EU-Ländern nicht nur knapp sind, weil die Staatsschuldenquoten schon sehr hoch sind, sondern auch weil die Ausgaben für Verteidigung und Sicherheit steigen müssen.

„Die EU muss ihr Oberlehrertum ablegen und bei ihren Anforderungen für Standards kompromissfähiger werden.“

Darüber hinaus braucht es dringend Freihandelsabkommen mit den größeren Schwellenländern in Südamerika und im Indo-Pazifik, um zu große Abhängigkeiten von China verringern zu können und De-Risking und Diversifikation zu ermöglichen. Hier muss die EU ihr Oberlehrertum ablegen und bei ihren Anforderungen für Standards kompromissfähiger werden. Wenn die Abkommen einmal bestehen, lassen sich Nachhaltigkeit und Menschenrechte mit den Partnern gemeinsam fördern, aber auf Augenhöhe.


Jürgen Matthes ist Ökonom und Leiter des Clusters Internationale Wirtschaftspolitik, Finanz- und Immobilienmärkte am Institut der deutschen Wirtschaft (IW).

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