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Die Kernthesen von Union Investment zur Europawahl

  • Die Zustimmung für rechtsgerichtete Parteien steigt in Europa seit Jahren – und der Trend dürfte anhalten.
  • Die Parteien der Mitte sollten ihre Mehrheit behalten, aber ihr Handlungsspielraum könnte sinken.
  • Der Ausgang der Europawahl dürfte keine direkten Implikationen auf die Kapitalmärkte haben, aber die Wettbewerbsfähigkeit Europas weiter belasten.

In Frankreich stärkste Kraft: Eine Rechtsaußenpartei

In der Europäischen Union (EU) „alles verändern, ohne etwas zu zerstören“ – das ist das erklärte Ziel von Jordan Bardella. Für den Spitzenkandidaten der französischen Rechtsaußenpartei Rassemblement National (RN, früher: Front National) für die Europawahl bedeutet das: mehr Einfluss für die Mitgliedsstaaten, weniger europäische Zusammenarbeit und keine Aufnahme weiterer Länder in die Staatengemeinschaft. Den „Green Deal“ will der 29-Jährige abschaffen und die anstehenden Europawahlen zum „Referendum über die Migration“ machen. In Frankreich ist seine Partei in Umfragen derzeit stärkste Kraft. Es ist sogar möglich, dass Bardella im Europäischen Parlament mit dem RN künftig die größte nationale Delegation anführen wird – in der Geschichte des Europäischen Parlaments würde diese Rolle zum ersten Mal einer extrem rechten Partei zufallen.

Zwischen dem 6. und 9. Juni 2024 sind rund 350 Millionen Menschen aus 27 Mitgliedsstaaten aufgerufen, ihre Stimme abzugeben. Über 700 Sitze sind im Europäischen Parlament zu vergeben, das an der EU-Gesetzgebung beteiligt ist, andere Institutionen kontrolliert und den Haushalt beschließt. Es ist die erste Europawahl seit dem Vollzug des Brexit, in einer herausfordernden Zeit für den alten Kontinent: Die Corona-Pandemie hat ihre Spuren hinterlassen, seit über zwei Jahren verteidigt sich die Ukraine gegen den russischen Angriffskrieg. Europa muss auf die neue sicherheitspolitische Bedrohungslage reagieren, in einer sich verändernden Welt des Großmachtwettbewerbs zwischen China und den USA seinen Platz neu bestimmen und zugleich die grüne Transformation der Wirtschaft vorantreiben. Die Migrationsströme in die EU sind eine weitere Belastungsprobe für die europäischen Gesellschaften – ein Grund für das Erstarken rechtspopulistischer Kräfte in vielen Mitgliedsländern. Auch bei den anstehenden Europawahlen könnten rechte Parteien weiter an Zustimmung gewinnen. Welche Folgen wären mit einem solchen Wahlausgang für die EU verbunden?

Rechte Welle in den Mitgliedsstaaten wirkt sich auf die EU-Ebene aus

Seit rund 15 Jahren wächst der Zuspruch für populistische Parteien in Europa. Dies zeigt sich nicht nur bei den Europawahlen, sondern schlägt sich auch in den Ergebnissen nationaler Urnengänge nieder. Einige Beispiele: Im Jahr 2022 gewann Giorgia Meloni von der postfaschistischen Fratelli d’Italia die Parlamentswahlen in Italien und wurde Ministerpräsidentin. In den Niederlanden holte Geert Wilders mit seiner rechtsgerichteten Partij voor de Vrijheid (PVV) im November 2023 die meisten Stimmen. Und in Portugal konnte die rechtspopulistische Partei Chega im März 2024 bei der Parlamentswahl ihren Stimmenanteil mehr als verdoppeln. Auch bei den in diesem Jahr noch anstehenden Wahlen ist mit einem Erstarken rechtsgerichteter Parteien zu rechnen, etwa bei der Nationalratswahl in Österreich im Herbst.

Die Rechtsverschiebung auf nationaler Ebene wirkt auch auf die Entscheidungsprozesse in der EU: Zum einen über den Europäischen Rat, in dem die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsstaaten die allgemeinen politischen Ziele und Prioritäten der EU festlegen. Zum anderen über den Rat der Europäischen Union: Hier entscheiden die Fachminister der EU-Länder über die Festlegung von Rechtsvorschriften. Erfolge von rechtspopulistischen und EU-skeptischen Parteien erschweren die Entscheidungsfindung auf europäischer Ebene, wenn diese Parteien Regierungsverantwortung in den jeweiligen Mitgliedsländern erlangen. Insgesamt führt die Rechtsverschiebung zu einer politischen Fragmentierung. Diese erschwert es, Kompromisse zu finden. Große Projekte sind nur noch schwer zu verabschieden, politische Lähmung kann die Folge sein.

Es ist wahrscheinlich, dass es auch bei der Europawahl zu einer Rechtsverschiebung kommt. In neun Mitgliedsstaaten könnten rechtspopulistische Parteien stärkste Kraft werden, in neun weiteren könnten sie Platz zwei oder drei belegen. Aktuellen Umfragen zufolge werden die beiden rechtsgerichteten Fraktionen im Europäischen Parlament an Zustimmung gewinnen. Besonders stark könnten die Europäischen Konservativen und Reformer (EKR) zulegen, zu denen beispielsweise Abgeordnete von Fratelli d’Italia und der polnischen PiS gehören. Auch die Fraktion Identität und Demokratie (ID) wird voraussichtlich Stimmen hinzugewinnen. Prominente Delegationen stellen neben dem RN auch die Alternative für Deutschland (AfD). Während die aktuell stärkste Fraktion, die Europäische Volkspartei (EVP), weitgehend stabil bleiben sollte, werden die Grünen, die liberale Renew Europe Group (RE) sowie die Fraktion der Progressiven Allianz der Sozialdemokraten (S&D) voraussichtlich mit herben Verlusten konfrontiert sein.

Die Mehrheitsfindung würde durch einen Rechtsruck schwieriger

Was würde diese Rechtsverschiebung im Europäischen Parlament bedeuten? Seit dessen Gründung im Jahre 1979 bis zu den vergangenen Wahlen im Jahr 2019 hatte die informelle große Koalition aus EVP und S&D stets eine Mehrheit. 2024 könnte die Zustimmung zu den beiden größten Fraktionen weiter erodieren (wegen der potenziellen Verluste von S&D). Doch auch, wenn die Parteien der Mitte (bestehend aus EVP, S&D, RE und den Grünen) an Stimmen einbüßen werden, sollten sie im neu gewählten Parlament eine Mehrheit auf sich vereinigen können. Eine der ersten Aufgaben des Parlaments wird die Wahl des Kommissionspräsidenten sein. Da die EVP als stärkste Partei aus der Wahl hervorgehen sollte, gilt Ursula von der Leyen als Favoritin. Bei umstrittenen politischen Vorhaben dürfte es aber schwieriger werden, eine Mehrheit zu finden. Zwar wird auch in der aktuellen Konstellation schon mit wechselnden Mehrheiten gearbeitet. Dennoch würde eine Rechtsverschiebung des EU-Parlaments dessen Handlungsfähigkeit weiter reduzieren. Auswirkungen wären insbesondere in zwei Politikfeldern sichtbar.

1. Klimapolitik und grüne Transformation der Wirtschaft

Die EU hat sich ambitionierte Ziele gesetzt: Im Rahmen des European Green Deal sollen bis 2050 keine Netto-Treibhausgase mehr ausgestoßen werden. Schon bis 2030 will die EU die Netto-Treibhausgasemissionen um mindestens 55 Prozent gegenüber 1990 reduzieren. Fraglich ist aber, ob sie diese Ziele erreichen kann – und ob die aktuell linearen Fortschritte angesichts der gewaltigen Herausforderungen durch den Klimawandel überhaupt ausreichen. Zudem ist eine klare Verschiebung der politischen Prioritäten festzustellen. Stand bei den Europawahlen 2019 noch die Umwelt- und Klimaschutzpolitik im Fokus (neben Brexit und Migration), hat nun angesichts des Kriegs in der Ukraine das Thema Verteidigung eine überragende Bedeutung. Zudem stehen im November Präsidentschaftswahlen in den USA an. Auch wenn es unserer Ansicht nach nicht das wahrscheinliche Szenario ist: Ein Wahlsieg von Donald Trump hätte drastische Folgen für die europäische Sicherheit – bis hin zu einem möglichen Austritt der USA aus der NATO.

Angesichts dieses Risikos ist die EU gezwungen, mehr für die eigene Sicherheit zu tun. Das Thema der grünen Transformation rückt so unweigerlich in den Hintergrund. Gleichwohl wird die EU an ihren grundsätzlichen Zielen in der Umwelt- und Klimaschutzpolitik festhalten. Anders ausgedrückt bedeutet dies: Die Richtung der Klima- und Umweltpolitik wird beibehalten, allerdings wird die Geschwindigkeit der grünen Transformation wohl gedrosselt werden. Schon vor der Wahl sind Gesetzesvorhaben wie die Europäische Lieferkettenrichtlinie (CSDDD) inhaltlich aufgeweicht und ihr Inkrafttreten auf der Zeitebene verschoben worden. Mit den neuen Mehrheitsverhältnissen kann es zu weiteren Verzögerungen oder zu geringerer klimapolitischer Ambition kommen. Gerade die rechtsgerichteten Fraktionen ID und EKR, die zu den Gewinnern bei der Europawahl zählen dürften, haben in der Vergangenheit überwiegend gegen die Maßnahmen des European Green Deal gestimmt (siehe Abbildung).

Wahrscheinlich ist, dass die gesetzgeberische Umsetzung des Green Deal langsamer und weniger umfassend erfolgen wird – eine Rücknahme zentraler Bestandteile ist kurzfristig aber nicht zu erwarten.

2. Wirtschaftspolitik und Wettbewerbsfähigkeit

Die EU steht vor einer Reihe von Problemen, die ihre Wettbewerbsfähigkeit belasten. Dies betrifft zum einen die Geopolitik: Die EU tut sich bei der Verortung in der sich verändernden Welt des Großmachtwettbewerbs schwer. Der politischen und historischen Nähe zu den USA sowie der transatlantischen Anbindung an die NATO, die durch den russischen Angriff auf die Ukraine nochmals gestärkt wurde, stehen die tiefen wirtschaftlichen Verflechtungen mit China entgegen. Zum anderen findet innerhalb der EU eine Machtverschiebung statt. Die deutsch-französische Zusammenarbeit funktioniert nicht mehr so wie in der Vergangenheit, zu unterschiedlich sind derzeit die Interessen und Sichtweisen der Nachbarländer. Auch deshalb kommen ambitionierte Integrationsschritte aktuell nicht voran. In der Wirtschaftspolitik hat die EU ehrgeizige Ziele formuliert; die industriepolitischen Ansätze sind aber nur unzureichend geeignet, diese auch zu erreichen. Die Transformation der Wirtschaft würde zugleich zukunftsweisende Investitionen erfordern. Die neuen Fiskalregeln bieten dafür aber nur geringfügig größeren Spielraum.

Ein stärkerer Einfluss rechtsgerichteter Parteien würde es erschweren, Mehrheiten für substanzielle Schritte zur Lösung dieser Probleme zu organisieren. Dies gilt beispielsweise für eine stärkere wirtschafts- und fiskalpolitische Integration. Es deutet wenig darauf hin, dass es der EU kurzfristig gelingt, ihre Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern. Dies bedeutet eine strukturelle Belastung des Wachstums und potenziell eine weitere Fragmentierung des europäischen Binnenmarktes.

Fazit

Der wahrscheinliche Rechtsruck bei den Europawahlen wird die Handlungsfähigkeit der EU in wichtigen Politikfeldern weiter einschränken. Zwar erwarten wir für die Kapitalmärkte kurzfristig keine direkten Auswirkungen. Gleichwohl kann der Wahlausgang strukturelle Implikationen für die Wettbewerbsfähigkeit der EU nach sich ziehen, weil die Dynamik des Grünen Wandels voraussichtlich nachlässt und weitere Integrationsschritte auf europäischer Ebene ausbleiben werden.


Autorinnen und Autoren: Katja Filzek, Fabian Niestert, Marco Weber (Research) und Christopher Krämer (Text).

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