Solidargemeinschaft: Genossenschaften leisten in vielen Ländern der Welt Hilfe zur Selbsthilfe und schließen Versorgungslücken. „Profil“ stellt Beispiele aus Asien und Europa vor.
Elmer van Buuren kann selbst nicht so genau beschreiben, wie er sich fühlt – jetzt, nach zwei Jahren harter Arbeit, als der erste Nachtzug von „European Sleeper“ aus Berlin heraus in die Dunkelheit eilt, nach Westen, nach Brüssel. „Es ist etwas ganz Besonderes. Ein lang gehegter Traum geht in Erfüllung. Es ist toll, was wir uns gemeinsam erarbeitet haben, und ich bin mittendrin“, sagt der Niederländer, der European Sleeper 2020 mit seinem Landsmann und Partner Chris Engelsman gegründet hat – als Genossenschaft.
Ihr Ziel war es, die in den vergangenen 20 Jahren reihenweise eingestampften Nachtzugverbindungen staatlicher Eisenbahnen in Europa in privater Initiative wiederzubeleben. Der Nachtzug zwischen Berlin und Brüssel über Bad Bentheim, Amsterdam, Den Haag, Rotterdam und Antwerpen war das erste Projekt, ab Frühjahr 2024 soll die Route im Osten über Dresden nach Prag verlängert werden. Als nächste Nachtzuglinie hat European Sleeper eine Verbindung zwischen Amsterdam und Barcelona angekündigt. Ehrgeizige Ziele, aber mit der Kraft der Gemeinschaft wollen es van Buuren und Engelsman schaffen: „Mehr Nachtzüge in Europa zu fahren ist ein Traum, den wir mit unserer Gemeinschaft leben. Deshalb sind wir auch kein gewöhnliches Unternehmen, sondern eine Genossenschaft. Jeder kann bei European Sleeper mitmachen. Die Mitglieder können ihre Ideen in unseren Geschäftsbetrieb einbringen und profitieren von den Gewinnen, die wir ausschütten“, sagt van Buuren.
Externer Inhalt
Nach Ihrer Einwilligung werden Daten an YouTube übertragen.
80 Mitglieder und viele Unterstützer
Rund 80 Mitglieder hat die Genossenschaft, denn Mitglied kann nur werden, wer eine gewisse Summe investiert. Laut van Buuren gibt es bei European Sleeper auch Anteilseigner, die nicht Mitglied sind. „Das kann man nach niederländischem Recht unterschiedlich organisieren“, sagt er. Die meisten Anteilseigner seien Privatpersonen, die sich für Eisenbahn interessieren, aber auch für nachhaltiges Reisen. Etwa die Hälfte der Mitglieder kommt aus den Niederlanden, die andere aus dem Ausland. „Sogar in Australien gibt es Fans“, berichtet van Buuren.
Unterstützer gibt es im Vergleich zu den Mitgliedern viel mehr: Über 350 Personen aus Europa und darüber hinaus zeichneten Ende Mai 2021 innerhalb von 15 Minuten Anteile an European Sleeper im Wert von insgesamt 500.000 Euro. Im Jahr 2022 sammelte die Genossenschaft durch den Verkauf von Geschäftsanteilen weitere zwei Millionen Euro ein. Van Buuren ist es wichtig, die Mitglieder und Anteilseigner in die Unternehmensentscheidungen einzubeziehen, auch wenn sie keine Stimmrechte haben. „Wir wollen unsere Kunden und die Menschen, die sich für Eisenbahnen interessieren, in unserer Gemeinschaft haben“, sagt der Nachtzug-Gründer. Davon profitiert auch European Sleeper. „Es gibt viele Leute um uns herum, die großes Fachwissen haben. Das können wir sehr gut gebrauchen. Wir halten zwei Mal im Jahr eine Versammlung ab, außerdem organisieren wir Arbeitsgruppen, wo jeder sein Wissen gezielt einbringen kann.“ Alle zusammen eint die Faszination für Nachtzüge.
Spontaner Applaus am Bahnsteig
Diese Faszination ist auch an den Bahnsteigen zu spüren. Als der Zug Ende Mai zur Premierenfahrt in den Bahnhof Berlin-Lichtenberg einfährt, brandet spontan Applaus auf – neben Journalistinnen und Journalisten sind auch viele Unterstützer sowie Vertreter verschiedener Fahrgastverbände und Interessengruppen gekommen, um eine weitere neue Nachtzugverbindung zu feiern. Während sich die Deutsche Bahn komplett aus dem Nachtzuggeschäft verabschiedet hat, bauen die Österreichischen Bundesbahnen es sogar aus. Von Berlin aus gibt es regelmäßige Verbindungen über Nacht nach Wien und Zürich. Außerdem fährt der private schwedische Betreiber Snälltoget von Berlin über Malmö nach Stockholm. Der Zug steht in Lichtenberg am selben Bahnsteig gegenüber.
Pünktlich um 20:47 Uhr geht es in Berlin-Lichtenberg los. Wegen Bauarbeiten muss der Zug zum offiziellen Startbahnhof Berlin-Gesundbrunnen einen Umweg über den Berliner Außenring nehmen. Als der Zug in Gesundbrunnen einfährt, ist der Bahnsteig voll mit Menschen. Wie in Lichtenberg brandet spontaner Applaus auf, viele zücken ihr Smartphone, um den Zug auf seiner Premierenfahrt zu filmen.
Zwei Minuten Aufenthalt sind in Gesundbrunnen eingeplant, doch das ist utopisch. Viele Radfahrer wollen den Zug nutzen, drängen sich mit ihren Drahteseln vor den Türen. Bis alle eingestiegen und die Räder verstaut sind, vergehen mehr als fünf Minuten. 21:17 Uhr geht es schließlich mit sechs Minuten Verspätung los – bis Brüssel sollen es 45 Minuten werden, doch bei Elmer van Buuren überwiegt die Freude, dass der Zug so gut angenommen wird. Bei der Premierenfahrt sind einige Plätze frei geblieben, aber die folgenden Verbindungen sind schon fast ausgebucht. Vor allem die vielen Fahrradfahrer, die den Zug nutzen wollen, freuen van Buuren. Um der Nachfrage gerecht zu werden, will European Sleeper die Fahrradstellplätze im Zug auf 48 erhöhen „Viele fahren mit uns, um in Holland oder Belgien Radurlaub zu machen“, berichtet van Buuren.
Nostalgisch in den Urlaub
So wie Manfred und Andrea Schulz. Sie haben früh genug gebucht und sich ein Abteil im Schlafwagen gegönnt. Am Boden stehen Fahrradtaschen. Das Ehepaar aus Berlin plant eine Radtour. Sobald sie in Brüssel angekommen sind, wollen sie mit dem Fahrrad über Holland zurück nach Berlin fahren. Dafür haben sie sich ein Teilstück des Europaradwegs R1 ausgesucht, der von London nach St. Petersburg führt. 14 Tage haben sie für die Tour eingeplant. Auch sie sind ganz begeistert von dem neuen Nachtzug. „Ein tolles Fahrgefühl. Und so nostalgisch“, sagt Andrea Schulz. Im Abteil zu frühstücken, sei zudem sehr romantisch. Nachtzüge seien ideal, um in den Urlaub zu fahren, findet das Ehepaar. „Man spart sich einen Tag und kommt erfrischt am Ziel an.“
Auf den European Sleeper wurden sie schon vor längerer Zeit aufmerksam, als sie im Internet nach Nachtzügen gesucht haben. „Da gab es noch keine Tickets für den Zug. Als diese dann angeboten wurden, haben wir gleich mit Fahrradtickets gebucht“, erzählt Manfred Schulz. Nur eine Sache finden die Fahrradurlauber ärgerlich, aber da kann European Sleeper nichts dafür. „Eine gute Stunde vor Abfahrt wussten wir immer noch nicht, auf welchem Gleis der Zug in Berlin-Gesundbrunnen abfährt. Das war aufregend, denn mit den Fahrrädern und dem ganzen Gepäck ist es doch sehr umständlich, noch schnell den Bahnsteig zu wechseln. Letztlich hat aber alles gut geklappt.“
Die nächste Station Bad Bentheim an der niederländischen Grenze soll erst um 4:09 Uhr erreicht werden. Bis dahin bleibt viel Zeit, um den Zug zu erkunden, die Mitreisenden kennenzulernen und Gespräche zu führen. Elmer van Buuren setzt sich in ein Liegewagen-Abteil, springt aber sofort wieder auf. „Ich muss noch telefonieren“, entschuldigt er sich. Auch nach der Abfahrt des Zugs gibt es jede Menge zu organisieren. Die Waggons des Nachtzugs hat European Sleeper von drei verschiedenen Waggonverleihern gemietet, zwei kommen aus Deutschland und einer aus der Slowakei. Gefahren wird der Zug von dem Eisenbahnverkehrsunternehmen Train Charter Services im Auftrag von European Sleeper, denn der Genossenschaft fehlt die Lizenz, um selbst Züge auf die Gleise zu schicken. Die Lok kommt von der belgischen Güterbahn Lineas und bleibt trotz verschiedener Stromsysteme durchgehend von Berlin bis Brüssel am Zug.
Die Fahrpläne muss European Sleeper mit den Bahnnetzbetreibern in Deutschland, den Niederlanden und Belgien abstimmen. Wegen Bauarbeiten fährt der Zug nur selten nach dem regulären Fahrplan, auch die Abfahrtsbahnhöfe in Berlin variieren. Mal ist es der Hauptbahnhof, mal Gesundbrunnen, mal Lichtenberg. Die Fahrgäste werden per E-Mail oder Kurznachricht informiert. Auch die Abfahrtszeit ändert sich regelmäßig, teilweise fährt der Zug zwei Stunden früher als geplant.
Schließlich kommt van Buuren zurück und lässt sich auf die Sitzbank fallen. „Es gibt keine Gebrauchsanweisung, um ein Eisenbahnunternehmen zu gründen. Wir fahren durch mehrere Länder, da muss man den Fahrplan zusammenbasteln. Es ist eine Herausforderung, das miteinander zu verknüpfen“, klagt er. Doch die Liebe zur Eisenbahn treibt ihn an. Der Niederländer ist in Utrecht aufgewachsen. „Ich hatte schon als kleines Kind eine Faszination für Eisenbahnen. Die Nachtzüge sahen immer anders aus als die üblichen Züge. Als ich das erste Mal gesehen habe, dass es Züge mit Betten gibt, fand ich das super“, erzählt van Buuren. Er habe auch immer schon ein Faible für Grenzen gehabt. „Ein Strich auf der Karte, der Länder und Menschen trennt, und auf jeder Seite wird eine andere Sprache gesprochen. Das fand ich interessant.“ Mit dem European Sleeper kann van Buuren nun Länder und Menschen verbinden.
Entspannt im Nachtzug
Mittlerweile ist es ruhig geworden im Zug. Die meisten Fahrgäste haben sich in ihre Abteile zurückgezogen und die Vorhänge geschlossen. Im letzten Wagen steht Juliette und schaut zu, wie sich vereinzelte Lichter links und rechts der Gleise in der Dunkelheit verlieren, während der Zug mit monotonem Rauschen in Richtung holländische Grenze rollt. „Ich liebe Züge“, erzählt die junge Französin, die in Berlin arbeitet. Nun will sie ihre Eltern in Toulouse besuchen. Tagsüber mit der Bahn zu fahren, dauert rund 14 Stunden mit mehrmaligem Umsteigen. Angesichts der vielen Verspätungen sei das keine Option, findet Juliette. „Verpasse ich nur einen Anschluss, komme ich am selben Tag nicht mehr nach Toulouse“, sagt sie. Flüge vermeidet sie, um das Klima zu schützen.
Der Nachtzug in die belgische Hauptstadt komme da gerade recht. „Ich erreiche Brüssel am Morgen, und von dort komme ich mit dem TGV über Paris auf jeden Fall bequem an mein Ziel“, sagt sie. Außerdem finde man in Nachtzügen immer nette Gesellschaft. Juliette teilt sich das Abteil im Liegewagen mit drei anderen Reisenden ähnlichen Alters. „Wir reden die ganze Zeit, das macht wirklich gute Laune“, erzählt sie.
Schließlich ist es auch für die Nachteulen Zeit, ins Bett zu gehen. Im Liegewagen-Abteil liegen einfache Decken, ein Bettbezug zum Reinschlüpfen sowie ein Kissen bereit. Bis zu sechs Personen finden dort Platz, im Schlafwagen sind es maximal drei Personen. Außerdem führt der Zug zwei Sitzwagen mit. Plätze im Sitzwagen kosten ab 49 Euro, im Liegewagen ab 79 Euro und im Schlafwagen ab 109 Euro. Im Liegewagen und im Schlafwagen gibt es zudem ein kleines Frühstück mit Kaffee und ein Mineralwasser. Großen Komfort darf man im Liegewagen nicht erwarten, aber zumindest auf der unteren Liege, die tagsüber auch als Sitzbank dient, liegt man einigermaßen bequem. Von der mittleren Liege kann man das nicht behaupten. Trotzdem macht das monotone Ruckeln des Zugs müde, an erholsamen Schlaf ist trotzdem nicht zu denken.
Sechs Stunden Schlaf im ruckelnden Zug
Am nächsten Morgen sitzt Miriam – noch eingewickelt in ihre Decke – ganz entspannt in ihrem Liegewagen-Abteil und schaut aus dem Fenster. Antwerpen hat der Zug bereits hinter sich gelassen, Brüssel ist nicht mehr weit. In ihrem Arm hält Miriam eine Mappe, auf die sie mit einem großen gelben Smiley ihr ausgedrucktes Ticket geklemmt hat. Jeder, der möchte, darf auf ihrem Ticket unterschreiben und ein paar nette Zeilen hinterlassen – als Erinnerung an die Premierenfahrt mit dem European Sleeper. „Ich bin als Kind schon viel mit dem Nachtzug gefahren, damals von Dresden nach Stuttgart, heute von Berlin nach Brüssel, das ist superpraktisch. Es sind sogar dieselben Waggons wie damals. Und es gibt Frühstück. Das gab es früher nicht“, erzählt sie. An das Ruckeln könne man sich gewöhnen, findet Miriam. „Ich habe sechs Stunden geschlafen, für einen schwankenden Zug ist das ordentlich“, berichtet die junge Frau.
Miriam arbeitet bei der EU-Kommission in Brüssel, kommt aber aus Berlin. Der neue Nachtzug sei ideal, um die Eltern über das Wochenende zu besuchen, sagt sie. „Freitagnacht hin, Sonntagnacht zurück nach Brüssel, das passt perfekt, auch wenn ich am Montag recht spät in die Arbeit komme“, findet Miriam. Außerdem liebt sie es, sich am offenen Zugfenster den Fahrtwind um die Nase wehen zu lassen. „Dafür nimmt man auch in Kauf, dass die Züge insgesamt doch recht klapprig sind.“ Schade findet Miriam nur, dass sie alleine im Abteil ist. Vier Plätze waren gebucht, doch die drei Mitreisenden sind nicht gekommen. „Der Smalltalk ist immer nett. Es geht nicht darum, Freunde fürs Leben zu finden, aber wenn man schon auf so engem Raum zusammensitzt, dann ist es doch gut, wenn man sich versteht und eine angenehme Zeit miteinander verbringt“, findet Miriam.
Elmer van Buuren weiß, dass die Waggons nicht auf dem Stand der Technik sind. Es sei ein großes Problem gewesen, überhaupt welche zu mieten, der Markt sei leergefegt. Trotzdem ist der Geschäftsführer von European Sleeper zuversichtlich, bald einen zweiten Zug auf die Schienen setzen zu können, wenn sich die Nachfrage passend entwickelt. Aktuell fährt der European Sleeper Sonntag, Dienstag und Donnerstag von Berlin nach Brüssel und Montag, Mittwoch und Freitag in entgegengesetzter Richtung. Außerdem fehlt aktuell noch ein Bistro-Wagen. Die Fahrgäste können zwar kleine Snacks und Getränke beim Zugteam ordern. Wer Wert auf eine richtige Mahlzeit legt, sollte aber ausreichend Proviant mitnehmen. European Sleeper arbeitet laut van Buuren daran, den Service zu verbessern. Er hofft, dass die Menschen seinen Nachtzug trotzdem annehmen und nicht nur Nostalgiker das Flair alter Zeiten genießen wollen. „Ein Nachtzug ist eher mit einer Jugendherberge vergleichbar, nicht mit einem normalen Hotel. Es wird eine große Herausforderung sein, das den Menschen zu vermitteln“, sagt van Buuren.
In Brüssel geht dann alles ganz schnell. Um 9:27 hätte der erste European Sleeper den Bahnhof Midi/Zuid erreichen sollen, wegen der Baustellen kommt er dort erst um 10:12 Uhr zum Stehen. In wenigen Augenblicken sind die Waggons leer. So schnell, wie sich die Fahrgemeinschaften auf Zeit im Nachtzug gefunden haben, so rasch gehen sie auch wieder auseinander. Manfred und Andrea Schulz beladen ihre Fahrräder, Juliette und Miriam sind schon nicht mehr zu sehen, während der Zug nach kurzer Zeit in den Abstellbahnhof rollt, um auf die nächste Fahrt vorbereitet zu werden. Elmer van Buuren und Chris Engelsman geben in einem benachbarten Hotel noch einige Interviews. Viel Zeit, um sich etwas Ruhe zu gönnen, bleibt nicht. Abends wird der European Sleeper wieder am Bahnsteig stehen, bereit zur ersten Rückfahrt nach Berlin. Um 19:22 Uhr geht es los, dieses Mal mit Prominenz aus Brüssel. Nun muss sich der neue Nachtzug im Alltag bewähren. Van Buuren ist optimistisch, dass dies gelingt. Spontanreisende jedenfalls müssen sich eine andere Verbindung suchen. „Wir sind leider schon ausgebucht“, bedauert die Pressesprecherin.
Tickets für den European Sleeper
Tickets gibt es auf der Internetseite von European Sleeper unter www.europeansleeper.eu. Der Zug ist bisher noch nicht in der DB-Fahrplanauskunft zu finden, soll aber dort noch aufgenommen werden.