Vielfalt: Ländliche Genossenschaften sind ein fester Bestandteil der bayerischen Landwirtschaft. Sie verbinden Mitgliedernähe mit innovativen Geschäftsmodellen.
Herr Dr. Reitmeier, das Cluster Ernährung am KErn hat 2017 mehrere Szenarien für die Lage der Ernährungswirtschaft im Jahr 2030 entwickelt. Wegen der Corona-Pandemie haben Sie diese nun auf den Prüfstand gestellt. Warum?

Simon Reitmeier. Foto: Cluster Ernährung am KErn
Simon Reitmeier: Es liegt in der Natur der Sache, dass sich Szenarien mit der Situation in der Zukunft beschäftigen. Dadurch besteht jedoch die Gefahr, dass sie durch unvorhergesehene und disruptive Veränderungen an Gültigkeit verlieren. Für uns stellt die Corona-Pandemie ein solches Ereignis dar. Deshalb haben wir reagiert und einerseits sieben neue kurzfristige Szenarien entworfen sowie andererseits die bereits bestehenden Szenarien einem Stresstest unterzogen. Szenarien sind Denkwerkzeuge für die Zukunft. Sie sollen gerade in dieser besonders unsteten Zeit der Corona-Pandemie Akteuren der Ernährungsbranche eine gewisse Vorausschau ermöglichen.
Wie hat sich Corona konkret auf das Ernährungs- und Einkaufsverhalten der Menschen ausgewirkt?
Reitmeier: Wir beziehen uns dabei vor allem auf die Ergebnisse einer Umfrage der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) im Auftrag des Staatsministeriums für Ernährung. Eines der wichtigsten Ergebnisse ist, dass 44 Prozent der Befragten ihr Einkaufs-, Ernährungs- und Kochverhalten durch die Corona-Pandemie verändert haben. Das ist ein beachtlicher Wert. Auch die Einzelergebnisse sind interessant: Beispielsweise achten Frauen sowie viele 35- bis 50-Jährige verstärkt auf Aspekte wie Frische, Qualität und Regionalität. Menschen mit höheren Bildungsabschlüssen sowie höheren Einkommen richten ihren Fokus besonders auf regionale Produkte sowie vegetarische oder vegane Alternativen. Dagegen kaufen rund 60 Prozent der Männer mehr Fertiggerichte als früher ein. Außerdem bauen sie einen Vorrat an Grundnahrungsmitteln auf. Wichtig ist zudem die Aussage, dass rund 20 Prozent der Teilnehmer ihr aktuelles Einkaufs-, Ernährungs- und Kochverhalten nach Corona beibehalten möchte. Bezieht man noch diejenigen Menschen ein, die zumindest ein Teil ihrer neuen Gewohnheiten beibehalten möchte, steigt der Wert auf 40 Prozent. Das bedeutet, dass die durch Corona angestoßenen Entwicklungen langfristig die Ernährungsbranche beeinflussen.

Schweinebraten mit Spätzle und Apfelblaukraut: Vor allem Männer verzehren laut einer Studie der GfK während der Corona-Pandemie verstärkt Fertiggerichte. Foto: imago images
Sie haben bereits erwähnt, dass sie sieben Post-Corona-Szenarien entwickelt haben. Wie sind Sie dabei vorgegangen?
Reitmeier: Die Szenarien haben wir gemeinsam mit mehreren Expertinnen und Experten aus unterschiedlichen Bereichen der Ernährungsbranche erstellt. Der wichtigste Schritt dabei war, gemeinsam sogenannte Schlüsselfaktoren zu identifizieren. Also: Wie ist die Zahlungsbereitschaft der Kunden? Wie viel Fleisch konsumieren die Verbraucher? Wie reagiert die Politik? Daraus sind dann mithilfe statistischer Verfahren die angesprochenen sieben Post-Corona-Szenarien entstanden.
Die Post-Corona-Szenarien des Cluster Ernährung am KErn
Anschließend haben Sie rund 40 Experten aus der Ernährungsbranche zu deren kurz- und mittelfristigen Zukunftserwartungen befragt und mit den sieben Szenarien verknüpft. Welches Szenario wird nach Ihrer Einschätzung am ehesten eintreffen?
Reitmeier: Nach den Aussagen der Expertinnen und Experten ist es am realistischsten, dass Szenario 5 „Langfristig gesteuerter Wandel – Sicherheit und Regionalität“ eintritt. Demnach müsste sich die Ernährungsbranche auch in den kommenden Jahren mit den Folgen der Corona-Pandemie intensiv auseinandersetzen. Konkret könnten die politischen Entscheidungsträger beispielsweise beschließen, auch nach Corona auf strenge Hygiene- und Schutzmaßnamen zu setzen. Das würde die Lebensgewohnheiten vieler Menschen massiv beeinflussen. Sie essen nur noch selten auswärts, stattdessen kochen sie zu Hause oder lassen sich Essen bringen. Unternehmen der Lebensmittelbranche reagieren, indem sie neue Leistungsangebote wie hygienesichere Verpackungen einführen. Beispielsweise wird der Salatkopf verstärkt in Folie verpackt und liegt nicht mehr offen im Regal. Gleichzeitig profitieren neue, regional geprägte Geschäftsmodelle. Die Gastronomie würde zu den Verlierern dieser Entwicklung zählen, da sie unter den massiven Einschränkungen leidet.

Lieferdienste gehören zu den Profiteuren der Corona-Pandemie. Foto: IMAGO / Sven Simon
Gibt es weitere Ergebnisse?
Reitmeier: Insgesamt räumen die Expertinnen und Experten vor allem den negativen Folgen der Corona-Pandemie einen breiten Raum ein. Hohe Zustimmung für die Szenarien 3 „Versorgungskrise mit Nationalisierung und allgemein steigenden Preisen“ sowie 7 „Radikaler Strukturwandel in der globalen Ernährungsbranche“ belegen eine hohe Unsicherheit über die künftigen Entwicklungen. Die Experten sind unschlüssig, wie flexibel und innovativ die Branche auf die Herausforderungen reagieren kann. Ein weiteres Ergebnis ist, dass sich die Erwartungen der Experten aus den verschiedenen Branchen teilweise stark unterscheiden. Nehmen wir beispielsweise das Szenario 1 „Schnelle Überwindung der Corona-Krise“. Dieses Zukunftsbild erwarten 48 Prozent der befragten Gastronomen, aber nur 30 Prozent der Lebensmittelproduzenten sowie 22 Prozent der Befragten aus den Sektoren Wissenschaft, Beratung und Verwaltung. Dabei spielt sicherlich auch der Aspekt eine Rolle, dass sich gerade die Gastronomen eine schnelle Rückkehr zur Situation vor Corona wünschen.
Im zweiten Teil der Studie haben Sie die neuen Ergebnisse mit den 2017 aufgestellten Szenarien vergleichen…
Reitmeier: Genau, 2017 hatten wir insgesamt acht Szenarien aufgestellt. Dabei standen vor allem die Themen Innovation, Digitalisierung und Einfluss des Gesetzgebers auf die Lebensmittelbranche im Fokus.
Die acht Szenarien des Cluster Ernährung am KErn zur Zukunft der Ernährungsbranche aus 2017
Nun haben Sie die Experten aus der Ernährungsbranche die Szenarien erneut bewerten lassen. Was ist dabei herausgekommen?
Reitmeier: Konkret haben wir drei Sachen gefragt: Erstens, wie sie die Szenarien heute bewerten, zweitens, welche Szenarien wahrscheinlich bis ins Jahr 2030 eintreten und drittens, welche Szenarien sie sich für die Zukunft wünschen. Bei der Bewertung des aktuellen Status der Ernährungsbranche haben sowohl Szenario 1 „Das Effizienz-Szenario“ als auch Szenario 8 „Das Versorgungs-Szenario“ an Relevanz gewonnen. Beide gehen von einer weiteren Stärkung der industriellen Lebensmittelproduktion aus, im ersten Fall global, im zweiten eher auf nationaler Ebene. Ein wichtiger Grund dafür ist, dass die Corona-Pandemie das zuvor sehr bedeutsame Thema Umwelt- und Klimapolitik zurückgedrängt hat. Wir erwarten aber, dass dies nur eine vorübergehende Erscheinung ist. Weitere Unterschiede: Laut den Expertinnen und Experten haben einfachere Logistikprozesse an Bedeutung gewonnen, der Lebensmitteleinzelhandel hat seine Position gestärkt und der Mangel an Arbeitskräften ist aktuell deutlich größer als noch vor vier Jahren.
Und wie schätzen die Wissenschaftler die Zukunft im Jahr 2030 ein?
Reitmeier: Die Szenarien 2 „Das Disruptions-Szenario“, 6 „Das regionale Vielfalts-Szenario“ und 7 „Das Verzichts-Szenario“ gewinnen gegenüber der Befragung 2017 deutlich an Bedeutung, die Rolle der Szenarien 3 „Das Digitalisierungs-Szenario“ und 4 „Das Export-Szenario“ nimmt ab. Konkret lassen sich daraus mehrere Aussagen ableiten. Beispielsweise wird erwartet, dass die Menschen weniger Zeit in das Thema Ernährung investieren und gleichzeitig das Ernährungsbewusstsein allgemein abnimmt. Es ist also nicht mehr so wichtig, was man isst, stattdessen wird Essen als Befriedigung eines Grundbedürfnisses wahrgenommen. Außerdem könnten die Menschen deutlich weniger im öffentlichen Raum essen gehen und stattdessen auf Bringdienste setzen. Dies ist besonders für die Gastronomie relevant. Des Weiteren wird das Vertrauen in die Lebensmittelsicherheit steigen, die Zahlungsbereitschaft sich jedoch nicht grundlegend verändern. Eine zusätzliche Erkenntnis: Die Bedeutung von Forschung und Wissenschaft im Bereich Lebensmittel wird voraussichtlich deutlich zunehmen.

Die Qualität von Fleisch wird kontrolliert: Viele Experten schätzen, dass das Vertrauen in die Lebensmittelsicherheit steigt. Foto: imago images/microgen
Gibt es Unterschiede zwischen den Erwartungen und den Wünschen der Experten für die Zukunft?
Reitmeier: Ja, die gibt es. Fragt man die Expertinnen und Experten nach ihren Wünschen, dann zeigt sich eine starke Zustimmung zu den Szenarien 5 „Das Global & Fair-Szenario“, 6 „Das regionale Vielfalts-Szenario“ und 7 „Das Verzichts-Szenario“. Das würde in der Konsequenz bedeuten, dass einerseits Themen wie Nachhaltigkeit und Regionalität immer wichtiger werden und andererseits gerade die mittelständischen Lebensmittelhersteller vor allem auf ihre nationalen Märkte setzen und nicht so sehr auf den Export. Und es gibt durchaus Anzeichen, dass die Wünsche der Expertinnen und Experten doch – entgegen ihrer Annahmen – teilweise in Erfüllung gehen könnten.
Inwiefern?
Reitmeier: Im Rahmen des Förderprogramms „food collegen“ unterstützt das Cluster Ernährung am KErn Start-Ups, die innovative Lebensmittel entwickeln. Dabei fragen wir die Gründerinnen und Gründer unter anderem nach ihrer Motivation. Fast alle berichten, dass ihnen die Themen Kreislaufwirtschaft, Klimaschutz, Alternativen zu Fleisch sowie digitale Konzepte sehr wichtig sind. Auch etablierte Hersteller setzen sich zunehmend mit diesen Themen auseinander und entwickeln entsprechende Produkte. Aus diesen Beobachtungen schließe ich, dass die Themen Nachhaltigkeit, Regionalität und gesunde Lebensmittel immer wichtiger werden – sowohl beim Einkauf als auch beim Essen selbst. Der Konsum von tierischen Produkten wird wohl abnehmen, vor allem, wenn zunehmend qualitativ hochwertige und gesunde Alternativen aus dem Labor auf den Markt drängen.
Herr Dr. Reitmeier, vielen Dank für das Gespräch!