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Über 70 Jahre lang ist der Wohlstand in Deutschland gewachsen, lediglich von kurzen Phasen der Rezession unterbrochen. Eine steigende Zahl an Erwerbstätigen und ausreichende Erhöhungen der Arbeitsproduktivität haben dafür gesorgt, dass wirtschaftliches Wachstum als sicher gelten konnte. Diese Zeiten sind vorbei.

In den letzten Jahren sind Arbeitskräfte in Deutschland immer knapper geworden. Das Fehlen von ausgebildeten Fachkräften behindert nach den Erhebungen im KfW-ifo-Fachkräftebarometer bereits die Geschäftstätigkeit von jedem zweiten Unternehmen. Alle großen Wirtschaftsbereiche sind davon betroffen. Im Januar lag die durchschnittliche Vakanzzeit für gemeldete offene Stellen bei 161 Tagen – 24 Tage mehr als im Jahr zuvor.

Die Babyboomer hinterlassen eine große Lücke

Der inländische Nachwuchs an Fachkräften geht zurück, und diese Entwicklung wird sich in den nächsten Jahren verstärken, weil die Babyboomer in Rente gehen. Die am Arbeitsmarkt nachfolgenden Jahrgänge sind wesentlich schwächer besetzt. In den kommenden drei Jahren wird die inländische Bevölkerung im Erwerbsalter nach einem Bevölkerungsszenario des Statistischen Bundesamtes um etwa 1,5 Millionen Personen abnehmen, die der Rentner um rund 700.000 steigen.

Die Fachkräfteknappheit wird dadurch ohne zügiges und ausreichendes Gegensteuern weiter zunehmen. In längerer Sicht sieht es gravierender aus: Bei einem Zuwanderungssaldo von null würde die Zahl der Einwohner im Erwerbsalter von 20 bis 66 bis 2040 um 9,3 Millionen sinken, die der Einwohner im Rentenalter um 4,7 Millionen steigen. Die Bevölkerung unter 20 Jahren wird ohne Nettozuwanderung bei Fortschreibung der derzeitigen Geburtenrate voraussichtlich um etwa 2 Millionen Personen sinken.

Schwaches Produktivitätswachstum und sinkende Arbeitszeiten vergrößern die Herausforderung

Neben der demografischen Entwicklung verstärkt das schwache Produktivitätswachstum den Arbeitskräftemangel. Die Arbeitsproduktivität je Erwerbstätigen stagnierte für die deutsche Wirtschaft als Ganzes in den letzten zehn Jahren beinahe. Das verursacht in Zeiten des Fachkräftemangels ein Dilemma, denn je weniger die Arbeitskräfteproduktivität bei gegebenem Wirtschaftswachstum steigt, umso mehr erhöht sich der Arbeitskräftebedarf.

Eine Ursache für die schwache Zunahme der Arbeitsproduktivität je Erwerbstätigen ist der Trend zu sinkenden Arbeitszeiten durch vermehrte Teilzeitarbeit. Zudem bringen Investitionen und Innovationen im langfristigen Trend ein immer schwächeres Produktivitätswachstum hervor. Das ist in allen Industrieländern zu beobachten. Der digitale Fortschritt und die umfangreichen Investitionen in digitale Technologien haben bisher keine Trendwende einleiten können, zumindest gesamtwirtschaftlich nicht.

Zur Eindämmung des Fachkräftemangels müssen alle Register gezogen werden

Zur spürbaren Verringerung der Fachkräfteknappheit muss an allen Stellschrauben gedreht werden, und der Handlungsbedarf drängt. Wird nicht zeitnah gegengesteuert, könnten das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf und damit der materielle Wohlstand in Deutschland sinken. Dies zeigt eine aktuelle Studie der KfW, die anhand von Szenarien die zu erwartende Entwicklung und den großen Handlungsbedarf verdeutlicht. Wollte man den demografisch bedingten Rückgang des inländischen Fachkräfteangebots allein durch eine höhere Erwerbsbeteiligung der Menschen im heutigen Erwerbsalter ausgleichen, müsste die Erwerbsquote der Altersgruppe von 15 bis 64 Jahren bis zum Jahr 2035 von derzeit 79 auf 89 Prozent steigen. Dazu müsste vor allem die Erwerbsquote von Frauen, aber auch die von Männern noch erheblich zulegen. Das ist kaum realistisch, denn die Erwerbsquote ist in Deutschland im Vergleich zu anderen Industrieländern bereits relativ hoch und der Trend zu steigender Erwerbsbeteiligung von Frauen müsste sich erheblich verstärken.

Wollte man den Rückgang des Fachkräfteangebots allein durch eine höhere Erwerbsbeteiligung der Altersklasse 65 plus erreichen, müsste die Erwerbsquote dieser Altersklasse bis zum Jahr 2035 von derzeit 8 Prozent auf 27 Prozent steigen. Der Anstieg des regulären Renteneintrittsalters auf 67 Jahre bewirkt bei Weitem zu wenig dafür. Dabei ist noch unberücksichtigt, dass Frauen und Rentner deutlich häufiger in Teilzeit arbeiten als Männer im Erwerbsalter. Zudem ergreifen Frauen weit weniger oft MINT-Berufe, die für die Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit bedeutsam sind. Darüber hinaus zeigen die Erhebungen der Krankenkassen, dass die Krankheitstage von Beschäftigten mit dem Alter deutlich steigen, vor allem psychische Erkrankungen haben zugenommen.

Um den Rückgang des inländischen Erwerbspersonenangebots komplett durch Zuwandernde auszugleichen, müssten bereits im Jahr 2022 per Saldo 1 Millionen Menschen im Erwerbsalter von 15 bis 64 Jahren nach Deutschland eingewandert sein. Der Zuwanderungssaldo in dieser Altersgruppe müsste dann bis zur Mitte des Jahrzehnts auf 1,3 Millionen steigen. Und das gilt nur, wenn man gleiche Qualifikationen unterstellt. Berücksichtigt man zusätzlich, dass ausländische Beschäftigte in Deutschland mangels Deutschkenntnissen und anerkannten Berufsabschlüssen in weit größerer Häufigkeit als Einheimische als Hilfskräfte arbeiten, müsste der Zuwanderungssaldo in der Altersgruppe auf 1,8 Millionen steigen.

Es wäre ein Versäumnis, bei der Eindämmung des Fachkräftemangels die Arbeitsproduktivität auszublenden, denn diese hat großen Einfluss auf den Fachkräftebedarf. Um den Rückgang des inländischen Arbeitskräfteangebots durch einen Anstieg der Arbeitsproduktivität auszugleichen, müsste das Wachstum der Produktivität je Erwerbstätigen von 0,2 Prozent pro Jahr in den letzten zehn Jahren auf 1 Prozent pro Jahr steigen.

Was kann gegen den wachsenden Fachkräftemangel getan werden?

Unternehmen und Staat haben verschiedene Möglichkeiten, dem Fachkräftemangel etwas entgegenzusetzen. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit ist hier zu nennen:

  • Heben von Effizienz- und Produktivitätspotenzialen in der Produktion: Zu den Stichworten gehören hier unter anderen Investitionen in Sach- und Humankapital und Innovationen zur Produktivitätssteigerung, Lean Management, Lean Production und bestmögliche Nutzung der Potenziale der Beschäftigten. Digitalisierung und Automatisierung von Tätigkeiten, wo wirtschaftlich sinnvoll, Heben von Effizienzpotenzialen bei Arbeitsabläufen.
  • Unterstützung der Beschäftigten bei der fachlichen Qualifizierung, beim Erwerb nützlicher Softskills, bei der Potenzialentwicklung.
  • Förderung von Frauen beim Aufstieg in Führungspositionen, Ermutigung, den Führungsnachwuchs dadurch zu verstärken.
  • Marktgerechte und incentivierende Bezahlung und Nebenleistungen.
  • Wo möglich flexible Arbeitszeiten und Homeofficemöglichkeiten für eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf und Berücksichtigung von Beschäftigtenpräferenzen.
  • Anwerben ausländischer Fachkräfte.

Fazit: Die Herausforderungen sind groß, es gibt viel zu tun

Der demografische Wandel wird ohne ausreichendes Gegensteuern die Fachkräfteknappheit weiter verstärken. Um dies zu verhindern, müssen alle volkswirtschaftlichen Akteure mitwirken. Das gilt erst recht, wenn man die weiteren Herausforderungen für die deutsche Wirtschaft mit in den Blick nimmt. Dazu gehören die digitale und klimaneutrale Transformation, die Stärkung der Antriebskräfte, um die wirtschaftlichen Krisenfolgen abzuschütteln, die Sicherung der Rohstoffverfügbarkeit, die Neuordnung internationaler Wertschöpfungsketten, eine mögliche Verstärkung internationaler Blockbildung mit zunehmendem Protektionismus, die Notwendigkeit zur Konsolidierung der öffentlichen Haushalte in Deutschland und der EU sowie eine Sicherung der Finanzierung der Rentenversicherung.


Martin Müller ist bei KfW Research Experte für Arbeitsmarkt- und Wohnungsmarktanalysen.

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