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Herr Professor Vöpel, am 23. Februar 2025 wählen die Deutschen nach dem Aus der Ampel-Koalition einen neuen Bundestag. Wie fällt die europapolitische Bilanz der zerbrochenen Bundesregierung unter Bundeskanzler Olaf Scholz aus?

Henning Vöpel: Ehrlich gesagt: schlecht. Der Begriff „German vote“ hat sich ja bereits in Brüssel etabliert. Damit ist gemeint, dass Deutschland nie eine klare Position formuliert und sich auch bei wichtigen Entscheidungen enthält, weil man sich in der Ampel nicht einigen konnte. Deutschland war dadurch europapolitisch sehr passiv. Die anderen Mitgliedsstaaten haben deutlich mehr inhaltliche und politische Führung erwartet. Gravierender aber ist womöglich noch, dass die bilateralen Beziehungen Deutschlands zu Frankreich und Polen schlechter geworden sind. Gerade in diesen turbulenten Zeiten wären stabile Achsen zwischen Paris, Warschau und Berlin wichtig gewesen.

„Die Renationalisierung in vielen Mitgliedsstaaten der EU erschwert es erheblich, gemeinsame europäische Interessen und Positionen zu formulieren.“

Wie blickt Europa auf die politische Lage in Deutschland?

Vöpel: Nun, die meisten anderen Länder in Europa haben ähnliche innenpolitische Probleme. Die Wirtschaft läuft eher schlecht und der Populismus wird bedrohlicher. Deutschland bildet da keine Ausnahme. Das muss Sorge bereiten. Die Renationalisierung in vielen Mitgliedsstaaten der EU erschwert es erheblich, gemeinsame europäische Interessen und Positionen zu formulieren. Gerade das aber wäre dringlicher denn je. Die Erwartungen an Deutschland sind aufgrund der vielen Enttäuschungen gar nicht so hoch. Es bilden sich ja bereits neue Kräfteverhältnisse in der EU. Polen und Italien etwa drängen in eine Führungsposition. Aber natürlich ist von der nächsten Bundesregierung viel mehr Engagement für Europa erforderlich. Schon im Interesse Deutschlands. Das muss die neue Bundesregierung endlich verstehen. Die Wahlprogramme geben allerdings wenig Anlass zur Hoffnung. Europa kommt nur sporadisch vor.   

„Die neue Bundesregierung muss als größte, aber wachstumsschwächste Volkswirtschaft der EU einen starken Binnenmarkt als ihre wichtigste Grundlage begreifen.“

Wirtschaftlich ist Deutschland nach wie vor eines der Schwergewichte in der EU. Wie ist die bisherige Bundesregierung mit dieser Verantwortung umgegangen, was kann die neue Bundesregierung besser machen?

Vöpel: Es stimmt zwar, dass Deutschland nach wie vor ein Schwergewicht in der EU ist, aber eines, das doch fast dramatisch an Gewicht verliert. Deutschland ist, was die Wachstumsdynamik betrifft, mittlerweile ein Sorgenkind in Europa. Zuletzt hat die Bundesregierung versucht, eigene industriepolitische Interessen durchzusetzen. Das ist zwar angesichts der Lage verständlich, mit Blick auf die Verantwortung für den Wettbewerb und den Binnenmarkt politisch doch sehr problematisch. Die neue Bundesregierung muss als größte, aber wachstumsschwächste Volkswirtschaft der EU einen starken Binnenmarkt als ihre wichtigste Grundlage begreifen.

Anfang Dezember 2024 hat die neue EU-Kommission unter Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ihre Arbeit aufgenommen. Sie geht mit einem „neuen Plan für nachhaltigen Wohlstand und Wettbewerbsfähigkeit in Europa“ an den Start. Welche Impulse erwarten Sie für Deutschland?

Vöpel: Zunächst ist die neue Prioritätensetzung der Kommission von der Leyen II vollkommen richtig. Die europäische Wirtschaft droht weiter abgehängt zu werden, gerade in den neuen Technologien und Industrien. Insofern ist die Situation der deutschen Wirtschaft geradezu symptomatisch für die gesamte europäische Wirtschaft: zu viel Bürokratie und Regulierung, zu wenig Innovation und Wachstum. Deutschland muss sich als europäischer Musterschüler der Bürokratie an die Spitze des Bürokratieabbaus setzen. Ein zweiter Impuls betrifft das Thema Energie, Klima und Wachstum. Die Energie- und Klimapolitik benötigt dringend einen Innovations- und Wachstumsfokus, sonst wird sie durch die Deindustrialisierung scheitern.

„So sehr der regelbasierte Multilateralismus der EU genützt hat, so sehr wird die EU unter den neuen geopolitischen Bedingungen leiden.“

Wo liegen aus Ihrer Sicht die europapolitischen Herausforderungen für Deutschland?

Vöpel: Das ganz große Thema für die EU sind die geoökonomischen Herausforderungen. Die Geopolitik dominiert die Globalisierung. Die USA und China spielen ein geopolitisches Machtspiel um die Hegemonie der nächsten globalen Ordnung. Nationale Interessen stehen wieder im Mittelpunkt, protektionistische Industrie- und Handelspolitik setzt sich mehr und mehr durch. So sehr der regelbasierte Multilateralismus der EU genützt hat, so sehr wird die EU unter den neuen geopolitischen Bedingungen leiden. Enorme Risiken entlang von internationalen Wertschöpfungs- und Lieferketten sowie kritische Abhängigkeiten von Rohstoffen, Chips und Medikamenten bedrohen die Souveränität der EU. Sicherheit wird neben der Wettbewerbsfähigkeit zu dem bestimmenden Thema der neuen Kommission. Dazu zählt nicht nur die klassische Verteidigung, sondern angesichts hybrider Bedrohungen eine Reihe weiterer kritischer Infrastrukturen.

„In einer Welt der nationalen Interessen und bilateralen Verhandlungen muss die EU eigene Stärken mit an den Verhandlungstisch bringen, um überhaupt noch eine Rolle zu spielen.“

Sie haben die geostrategischen Herausforderungen Europas bereits angerissen: Der neue US-Präsident Donald Trump droht der Welt unter anderem mit Strafzöllen, der Ukraine-Krieg dauert mittlerweile drei Jahre und China verfolgt immer unverhohlener seine imperialistischen Ambitionen, genauso wie Russland und die USA. Wie kann sich Europa in dieser weltpolitischen Gemengelage behaupten und wie kann Deutschland dazu beitragen, damit die EU in diese Rolle hineinfindet?

Vöpel: Europa kann nicht mit den gleichen Waffen kämpfen wie die anderen Länder. Das Konstrukt der EU ist auf Konsens und Ausgleich ausgerichtet. Das Beihilferecht und die Einstimmigkeitsregel sind wesentliche Säulen der EU, die nicht einfach eingerissen werden können, ohne die EU selbst zu gefährden. In einer Welt der nationalen Interessen und bilateralen Verhandlungen muss die EU eigene Stärken mit an den Verhandlungstisch bringen, um überhaupt noch eine Rolle zu spielen. Dazu zählt der Binnenmarkt, der eine Art „Schutzraum“ für die europäischen Unternehmen und zugleich einer der größten Märkte der Welt ist. Und die EU muss dringend Technologieführerschaft zurückgewinnen. Sie ist die letzte Quelle von wirtschaftlicher Wettbewerbsfähigkeit und politischer Souveränität. Deutschland kann und muss zu beiden Zielen – Stärkung des Binnenmarkts und der Technologieführerschaft – wesentlich beitragen.
 

Herr Professor Vöpel, herzlichen Dank für das Gespräch!

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