Mehrwert: Erfolgreiche Einkaufsgenossenschaften bieten ihren Mitgliedern nicht nur bessere Konditionen, sondern fördern sie mit vielfältigen Zusatzleistungen. Zwei Beispiele.
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Jeden Tag haben die Menschen in Bayern mit gewerblichen Genossenschaften zu tun – oft ohne es zu wissen. Der genossenschaftlich geprägte Tag von – nennen wir sie Johanna Grundinger, verheiratet, zwei Kinder – könnte zum Beispiel so aussehen:
- Morgens holt sie Semmeln beim Bäcker, der seine Zutaten von der Bäcker- und Konditoren-Einkauf eG (BÄKO) bezieht.
- Weil ihr Auto in der Werkstatt ist, nimmt sie heute ausnahmsweise ein Taxi von ihrem Heimatort zur Arbeit. Der Taxifahrer ist Mitglied bei der örtlichen Taxi eG.
- In ihrem Unternehmen ist Johanna Grundinger zuständig für die Lohnbuchhaltung. Dafür nutzt sie Software der DATEV eG.
- Mittags kauft sie sich eine Kleinigkeit im Unverpackt-Laden um die Ecke, der auch einen Mittagstisch anbietet. Der Laden ist als Genossenschaft organisiert.
- Dann telefoniert sie noch kurz mit dem Dachdecker, der nächste Woche eine Photovoltaik-Anlage auf das Dach ihres Einfamilienhauses bauen wird. Die Module kauft der Handwerker bei der Dachdecker-Einkauf Süd eG, die ihm als Mitglied günstige Konditionen bietet.
- Leider hat sich Johanna Grundinger beim Joggen leicht verkühlt. Deshalb schaut sie bei der Apotheke vorbei, um nach einem Hustenmittel zu fragen. Der Apotheker ist Mitglied der Sanacorp eG, die ihn jeden Tag mit Medikamenten beliefert.
- Am Wochenende wird Johannas Tochter sechs Jahre alt. Die Geschenke besorgt sie beim VEDES-Spielwarenhändler. Die VEDES Gruppe mit genossenschaftlichen Wurzeln gehört zu den führenden Spielwaren-Handelsunternehmen in Europa.
- Nachdem sie ihr Auto aus der Werkstatt geholt hat, fährt Johanna Grundinger nach Hause. Vor einigen Jahren ist die Familie von der Stadt aufs Land gezogen. Ihre täglichen Lebensmitteleinkäufe erledigt sie im Dorfladen um die Ecke, betrieben von einer Genossenschaft.
- Für ihren Mann kauft sie ein besonders gutes Bier – von der Brauereigenossenschaft, die sich erst vor einigen Jahren im Ort gegründet hat, aber inzwischen weit mehr Bier verkaufen könnte als sie brauen kann.
- Nachdem die Kinder endlich schlafen, fällt auch Johanna Grundinger müde in ihr Bett. Morgen hat sie einen Termin beim Zahnarzt. Der rechnet seine Leistungen über die ABZ eG ab. Darauf verschwendet Johanna aber keinen Gedanken mehr. Kaum, dass sie liegt, sind ihr vor Erschöpfung schon die Augen zugefallen.
In fast allen Branchen zuhause
Schon diese wenigen Beispiele zeigen: Gewerbliche Genossenschaften in Bayern sind in fast allen Wirtschaftsbranchen zuhause – und sie sind extrem vielfältig. Vom kleinen ehrenamtlich geführten Dorfladen bis zum genossenschaftlichen Unternehmen mit Milliardenumsatz ist alles dabei. 259 gewerbliche Genossenschaften gibt es in Bayern (Stand: Dezember 2022). Zusammen beschäftigen sie rund 13.000 Menschen, haben rund 88.000 Mitglieder und kommen auf etwa 7 Milliarden Euro Jahresumsatz. Damit sind sie ein wichtiger Wirtschaftsfaktor für Bayern (siehe Kasten).
Gewerbliche Genossenschaften in Bayern
Handel
„Zusammen geht mehr“ – dieses genossenschaftliche Credo besteht bereits seit 160 Jahren und wird auch bei den Handelsgenossenschaften gelebt. Sie sind zum Beispiel im Bereich Nahrungs- und Genussmittelhandel tätig oder auch im Arzneimittelgroßhandel. Ebenso gehören genossenschaftlich geführte Dorf- und Unverpackt-Läden dieser Sparte an.
Die 62 bayerischen Handelsgenossenschaften in Zahlen:
- 5 Milliarden Euro Umsatz,
- 3.000 Mitarbeitende,
- 16.000 Mitglieder.
Gewerbe
Zu dieser Gruppe zählen Unternehmen aus den Bereichen Gastronomie, Gesundheit, Marketing und Tourismus, Verkehr, Kommunikation und IT, Soziales, Kultur und Produktion. Auch freie Berufsgruppen – darunter zum Beispiel Zusammenschlüsse von Ingenieuren, Anwälten oder Designern – sind in den gewerblichen Genossenschaften vertreten. In der Unternehmensform Genossenschaft bündeln sie ihr Angebot und schaffen so Mehrwert für ihre Mitglieder.
Die 151 bayerischen Gewerbegenossenschaften in Zahlen:
- 1 Milliarde Euro Umsatz,
- 9.000 Mitarbeitende,
- 54.000 Mitglieder.
Handwerk
Im Jahr 1847 gründete Genossenschaftspionier Hermann Schulze-Delitzsch die erste „Rohstoffassoziation“ für Tischler und Schuhmacher – also eine Einkaufsgenossenschaft für Handwerker. Seitdem gehören die Handwerker fest zum Genossenschaftswesen – bis heute. Die bayerischen Handwerksgenossenschaften bündeln den Einkauf von einzelnen Gewerken wie Dachdeckern oder sind selbst handwerklich tätig wie Brauer, Schreiner, Schuhmacher, Bäcker, Metzger, Schlosser oder Kaminkehrer.
Die 46 bayerischen Handwerksgenossenschaften in Zahlen:
- 814 Millionen Euro Umsatz,
- 1.000 Mitarbeitende,
- 18.000 Mitglieder.
Stand: Dezember 2022, alle Zahlen gerundet. Quelle: GVB-Webseite
Hohe Identifikation mit den Mitgliedern
Doch was eint die gewerblichen Genossenschaften in all ihrer Vielfalt? Vor allem eins, sagt Helmut Wiedemann, Geschäftsführender Vorstand der BÄKO München Altbayern und Schwaben eG und Vorsitzender des GVB-Fachausschusses Gewerbliche Genossenschaften. „Sie sind in ihrem jeweiligen Tätigkeitsbereich absolute Spezialisten, die einen enormen Mehrwert schaffen für die Mitglieder, aber auch für die Menschen und die Wirtschaft in Bayern.“ Kennzeichnend sei auch die hohe Identifikation der Akteure mit ihrer Genossenschaft und dem Ziel, die Mitglieder bestmöglich zu unterstützen. „Das ist die Triebfeder, mit der diese Menschen jeden Tag Großes in der Genossenschaft leisten“, sagt Wiedemann.
Ein Wesensmerkmal von Genossenschaften komme im gewerblichen Bereich besonders stark zur Geltung: Sie bündeln die Interessen der Mitglieder, zum Beispiel im gemeinsamen Einkauf oder bei Dienstleistungen. „Die Akteure handeln in der Genossenschaft gleich, weil sie ein gemeinsames Verständnis vom Geschäft haben, obwohl sie als Einzelunternehmer Konkurrenten sind“, sagt Wiedemann. Genossenschaften unterstützten ihre Mitglieder gezielt dort, wo diese ein gemeinsames Interesse verfolgen. „Dafür entwickeln sie exklusive Leistungen, die es so nirgendwo anders gibt.“ Am Ende profitiere die komplette Branche. „Für die Wirtschaft sind Genossenschaften ein wichtiger Anker, weil sie sich auch in rauen Zeiten um Stabilität bemühen. Im Zentrum steht nicht pures Gewinnstreben, sondern pure Leistung für die Mitglieder“, sagt Wiedemann.
Fachkräftemangel trifft auch Genossenschaften hart
Gleichwohl seien die Genossenschaften nicht von der wirtschaftlichen Entwicklung abgekoppelt. Der Fachkräftemangel treffe sie genauso hart wie alle anderen Unternehmen auch, berichtet Wiedemann. Ihre spezielle DNA mache es den Genossenschaften nicht leicht, gutes Personal zu finden. „Der Menschentyp, der sich lange Jahre mit Beharrlichkeit, Spezialwissen und starker Identifikation für die Sache der Mitglieder eingesetzt hat und der lange für den Erfolg von Genossenschaften stand, geht leider immer mehr verloren“, bedauert der BÄKO-Vorstand. Deshalb sei es wichtig, dass die Genossenschaften selbst ausbilden. „Wir brauchen dringend Spezialisten, die sich mit dem genossenschaftlichen Gedanken identifizieren und die Bereitschaft mitbringen, immer im Interesse der Mitglieder zu handeln und zu denken“, sagt Wiedemann. Solche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu entwickeln, erfordere viel Geduld.
Dabei ist der Fachkräftemangel nicht das einzige Problem, das die Genossenschaften umtreibt. Die Preisentwicklung, Lieferkettenprobleme oder die hohen Energiekosten betreffen auch sie. Das größte Problem sei aber die Unsicherheit, die sich in vielen Unternehmen breit mache. „Wir haben keinen Einfluss mehr auf die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, die Verlässlichkeit der Parameter ist verloren gegangen. Viele Marktteilnehmer haben Angst, was als Nächstes kommt. Das verunsichert dann alle“, berichtet Wiedemann. Die Deglobalisierung verändere auch das Geschäft der Genossenschaften und ihrer Mitglieder. „Die wirtschaftlichen Parameter verschieben sich so stark, dass es für einzelne Unternehmen schon existenziell wird“, sagt Wiedemann.
Auf Kernkompetenzen besinnen
Um in diesen Umbruchzeiten zu bestehen, müssten sich Genossenschaften auf ihre Kernkompetenz besinnen: die Mitglieder erfolgreich zu machen. Wichtig sei, die Leistungen zu diversifizieren. Die BÄKO kaufe nicht nur Backzutaten für ihre Mitglieder ein, sondern sie biete auch Backseminare an oder berate bei der Einrichtung der Backstube, gibt Wiedemann ein einfaches Beispiel. „Die Frage muss immer lauten: Wie kann ich mein Mitglied erfolgreich machen, ohne das eigene Kerngeschäft aus den Augen zu verlieren?“, sagt Wiedemann. Genossenschaften hätten den Wandel in den Genen. Sie seien es gewohnt, ihre Leistungen stets zu überprüfen und anzupassen. „Erfolgreiche Mitglieder stabilisieren auch das Kerngeschäft der Genossenschaft“, sagt der BÄKO-Geschäftsführer.
Stabilitätsfaktor für die Wirtschaft
Eckhard Schwarzer ist Präsident des Mittelstandsverbunds – ZGV e.V. Der Spitzenverband des kooperierenden Mittelstands vertritt rund 230.000 mittelständische Unternehmen in ganz Deutschland, die in mehr als 300 Verbundgruppen organisiert sind. Schwarzer kennt die gewerblichen Genossenschaften in Bayern aus eigener Anschauung: Bis Mitte 2021 war er stellvertretender Vorstandschef der DATEV eG in Nürnberg. Genossenschaften seien ein wichtiger Stabilitätsfaktor für die Wirtschaft, sagt auch er. „Sie bieten ihren Mitgliedern Sicherheit in der Gemeinschaft, eine Art wirtschaftlicher Schutzschild.“ Mitglieder von Genossenschaften hätten bessere Chancen, durch eine Krise zu kommen, als Einzelkämpfer. Das hätten die Krisen der vergangenen 20 Jahre von der geplatzten Dotcom-Blase über die Finanzkrise bis zur Corona-Pandemie gezeigt.
Ein Grund für die hohe Resilienz von Genossenschaften sei die Rechtsform, ist Schwarzer überzeugt. Das klingt trivial, sei aber nicht zu unterschätzen. „Weil die Mitglieder in Genossenschaften basisdemokratisch entscheiden, kann niemand die Stimmenmehrheit auf sich versammeln und die Geschäftspolitik allein bestimmen. Die Verfahren sind etwas langwieriger, aber am Ende stehen Entscheidungen im Sinne der Mitglieder“, sagt der Präsident des Mittelstandsverbunds.
Wegen der vielen sich überlagernden globalen Krisen sieht Schwarzer die Rechtsform eG sogar im Aufschwung, gerade im gewerblichen Bereich. „Es steigt das Interesse, sich unter dem Dach einer Genossenschaft zu versammeln“, sagt er. Die Digitalisierung und das Internet böten reichlich Geschäftsmodelle für gewerbliche Genossenschaften, ist Schwarzer überzeugt. So überlege die Bauindustrie, eine IT-Genossenschaft zu gründen, die den einzelnen Bauunternehmen eine einheitliche IT-Infrastruktur mit Schnittstellen zu anderen IT-Systemen zur Verfügung stellen soll. „Interoperabilität wird bei der Planung und Durchführung von Bauvorhaben immer wichtiger. Die ist aber häufig nicht gegeben, weil jedes Unternehmen sein eigenes IT-System hat“, erläutert Schwarzer.
Genossenschaft wird zum Datenmanager
Interoperable IT-Systeme und aktives Datenmanagement würden auch in anderen Branchen dringend benötigt, meint der Präsident des Mittelstandsverbunds. Er sieht bereits eine „Renaissance der Genossenschaft“, getrieben durch die Digitalisierung. „Die Genossenschaft wird zum Datenmanager und zum Anbieter von IT-Infrastruktur. Der Mittelstand braucht Initiativen zur Datenvernetzung“, fordert Schwarzer. Vorangetrieben werde die Entwicklung auch durch das EU-Projekt Gaia-X, das den Aufbau einer leistungsfähigen, sicheren und vertrauenswürdigen Dateninfrastruktur für Europa zum Ziel hat. „Auch wenn die Pläne wegen der Corona-Pandemie aktuell etwas ins Hintertreffen geraten sind, das Thema ist nicht aus dem Fokus“, sagt Schwarzer. Die gewerblichen Genossenschaften könnten sich als Datentreuhänder für ihre Mitglieder positionieren, schlägt der ehemalige DATEV-Manager vor. So könnten auch kleine Unternehmen datenschutzkonform von einem großen Datenpool profitieren. „Ein Unternehmen allein könnte das niemals leisten“, sagt Schwarzer.
Angesichts des schnellen digitalen Fortschritts sollten gewerbliche Genossenschaften das eigene Geschäftsmodell immer wieder hinterfragen und auf Relevanz für die Mitglieder abklopfen. „Die klassische, reine Einkaufsgenossenschaft läuft Gefahr, in Zukunft von digitalen Plattformen ersetzt zu werden – außer, sie modifiziert ihr Geschäftsmodell. Sie muss zusätzliche kundenspezifische Dienstleistungen und Services anbieten und selbst zum Anbieter digitaler Plattformservices werden, die zum Nutzen der Mitglieder die gesamte Wertschöpfungskette abdecken“, gibt Schwarzer ein Beispiel. So verhindere die Genossenschaft auch, dass sich Plattformanbieter zwischen Genossenschaft und Mitglied beziehungsweise zwischen das Mitglied und dessen Kunden schieben und so der direkte Kundenkontakt verloren geht. Deshalb müsse die Genossenschaft alles dafür tun, diese Schnittstellen zu erhalten und die Mitglieder mit entsprechendem Know-how zu versorgen, zum Beispiel durch qualifizierte Weiterbildungen.
„Um für die Mitglieder relevant zu bleiben, müssen Genossenschaften immer ein breites Grundrauschen an Services und Dienstleistungen anbieten, das über das eigentliche Geschäftsmodell hinausgeht. So erhalten sie das Interesse der Mitglieder. Das ist essenziell, damit diese an Bord bleiben“, sagt Schwarzer. Das mögliche Angebot an Unterstützungsleistungen sei mannigfaltig. „Marketing, Werbung, politische Informationen, Praxishilfen zur Tarifpolitik oder zu Arbeitsgesetzen – die Möglichkeiten sind unendlich“, sagt Schwarzer.
Chancen, wo man sie nicht vermuten würde
Chancen für neue Geschäftsmodelle und Dienstleistungen böten sich außerdem an Stellen, wo man sie nie vermuten würde, ist Schwarzer überzeugt. So zwinge das sogenannte Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz Unternehmen seit diesem Jahr dazu, Verantwortung für die Herstellung ihrer Produkte zu übernehmen und darauf zu achten, dass entlang der gesamten Lieferkette die Menschenrechte grundlegend eingehalten werden. Das zu überschauen, sei für ein einzelnes Unternehmen kaum zu leisten. Wenn aber verschiedene Unternehmen diese Aufgabe einer Genossenschaft übertragen, könne diese alle Informationen entlang der Lieferkette sinnvoll erfassen und für alle Mitglieder nutzbar machen. „Was der Einzelne nicht leisten kann, das leistet die Gemeinschaft. Ein typischer Fall für eine Genossenschaft. Sie kann dort eine starke Wirkung entfalten, wo sie gemeinsame Interessen ihrer Mitglieder vertritt“, sagt Schwarzer.
Die Rechtsform eG sei extrem innovativ und zukunftsträchtig, wenn man die traditionellen Mechanismen einer Genossenschaft für die Zukunft adaptiere, ist Schwarzer überzeugt. „Die Transformation unserer Wirtschaft wird geprägt sein von epochalen Veränderungen. Die Genossenschaften müssen ihre Mitglieder darauf vorbereiten und sie befähigen, diese Entwicklung zu antizipieren. Wenn sie das schaffen, dann mache ich mir um die Genossenschaften keine Sorgen“, sagt Schwarzer.