Mehrwert: Die Digitalisierung verändert den Zahlungsverkehr massiv. Das bietet den Volksbanken und Raiffeisenbanken viele Chancen – nun gilt es, diese auch zu nutzen.
Herr Dr. Stahl, laut einer aktuellen Studie zahlen die Deutschen immer weniger mit Münzen und Scheinen. Spielt Bargeld bald keine Rolle mehr?
Ernst Stahl: In der Tat nimmt die Bedeutung von Bargeld kontinuierlich ab, pro Jahr verliert es durchschnittlich rund ein Prozent bei den Marktanteilen der Bezahlungsverfahren. Vor allem bei Transaktionen mit Beträgen von über 100 Euro nutzen immer mehr Menschen die Karte oder das Smartphone. Deshalb verzeichnete der Einzelhandel 2018 erstmals einen größeren Karten- als Bargeldumsatz. Ich möchte dennoch nicht von einer Revolution, sondern von einer Evolution sprechen. Kurz- und mittelfristig spielt Bargeld weiter eine bedeutende Rolle. Dazu reicht ein Blick auf die Zahl der reinen Transaktionen, bei denen Bargeld unangefochten an der Spitze steht. Um ihre Semmeln oder ihren Kaffee zu zahlen, nutzen die Deutschen nach wie vor bevorzugt Scheine und Münzen.
Die wichtigsten Aussagen von Ernst Stahl
- Immer mehr Menschen bezahlen mit Karte oder Smartphone.
- Die Bedeutung des Bargelds nimmt langsam aber stetig ab. In Zukunft könnte sich dieser Trend verstärken.
- Große Einzelhändler fördern den Trend zum bargeldlosen Bezahlen. Kleinere Händler fürchten hingegen die (vermeintlich) höheren Gebühren.
- Die meisten Menschen sind mit den bestehenden Bezahlverfahren zufrieden. Neue Anbieter müssen gute Gründe liefern, damit sie umsteigen.
- Kommt die starke Kundenauthentifizierung für Kreditkarten im Herbst 2020, könnte die Bedeutung dieses Bezahlmittels abnehmen.
In anderen Ländern spielen bargeldlose Bezahlmittel eine weitaus größere Rolle. Warum sind die Deutschen in dieser Hinsicht noch zögerlich?
Stahl: Viele Menschen schätzen die „geprägte Freiheit“ von Münzen und Scheinen, also die Anonymität und den Datenschutz. Außerdem ist die Infrastruktur für die Bargeldversorgung in Deutschland sehr gut ausgebaut. Nahezu alle Menschen kommen sehr schnell an Bargeld, sei es am Geldautomaten oder an der Ladenkasse. In anderen Ländern ist das schwieriger. Beispiel Schweden: Das Land ist groß und dünn besiedelt. Dort lohnt es sich nicht, flächendeckend Geldautomaten aufzustellen. Oder Kenia: Weil dort viele Menschen kein reguläres Bankkonto besitzen, konnte sich das elektronische Zahlungsverkehrssystem M-Pesa durchsetzen. In zahlreichen weiteren afrikanischen oder asiatischen Ländern sieht es ähnlich aus.
Werden die Deutschen beim bargeldlosen Bezahlen bald nachziehen?
Stahl: Ich erwarte, dass der Trend zum bargeldlosen Bezahlen in den kommenden Jahren zunimmt, befeuert durch neue Verfahren wie etwa Apple Pay. Große Einzelhändler wie Rewe oder Aldi sind für diese Entwicklung gut gerüstet. Anders sieht es bei kleineren Läden wie Bäckereien und Metzgereien oder der Dorfwirtschaft aus. Dort ist häufig keine Kartenzahlung möglich. Banken, die regional verwurzelt sind und ihre Kunden gut kennen, können in diesem Bereich Aufklärungs- und Informationsarbeit leisten und den Inhabern zeigen, warum es sich lohnt, entsprechende Bezahlverfahren anzubieten.
Das wird nicht einfach, viele kleinere Händler fürchten die Gebühren bei bargeldlosen Bezahlverfahren…
Stahl: Da sprechen Sie einen wichtigen Punkt an. Bargeld empfinden viele Händler als kostenneutral, bei den Kartenzahlungen schauen sie dagegen genau auf die Gebühren. Es fehlt an Aufklärung, denn Bargeld verursacht ebenfalls Kosten. Schließlich müssen die Inhaber das Geld sortieren, zählen, in einem Safe verstauen, zur Bank bringen, und so weiter. Diese Kosten müssten in einer fairen Gegenüberstellung einberechnet werden. Und dann zeigt sich, dass Bargeld nur vermeintlich kostenneutral ist. Es gibt jedoch einen weitaus wichtigeren Grund, warum sich Händler mit bargeldlosen Bezahlverfahren auseinandersetzen sollten: Wie bereits angesprochen, wollen immer mehr Kunden auf diese Weise bezahlen. Wer ihnen diese Möglichkeit nicht bietet, muss schlimmstenfalls auf Umsatz verzichten. Das kann kein Händler wollen. Ein zusätzlicher Vorteil ergibt sich übrigens aus der neu eingeführten Bonpflicht, über die sich viele Geschäftsleute ärgern: Bei mobilen Bezahlverfahren wird der Bon digital hinterlegt und erfüllt damit die gesetzlichen Anforderungen. Das ist ein weiterer Grund, sich mit den Möglichkeiten auseinanderzusetzen.
„Wie Bezahlverfahren technisch funktionieren und welche Gebühren die Händler zahlen, ist den Kunden egal.“
Was erwarten die Händler generell von einem modernen Zahlungsdienstleister?
Stahl: Die größten Schmerzpunkte sind – wenig überraschend – die Gebühren. Bei Händlern, die ausschließlich hochpreisige Produkte im Sortiment haben, sind ein paar Cents kein Problem. Ein Bäcker jedoch, bei dem die Breze 65 Cent kostet, möchte verständlicherweise nicht 10 Cent oder mehr für eine Karten-Transaktion ausgeben. Händler wünschen in diesem Bereich folglich attraktive Konditionen.
Und die Kunden?
Stahl: Die Menschen wollen einkaufen. Bezahlen ist für sie ein notwendiges Übel. Deshalb wollen sie den Vorgang so schnell, bequem und einfach wie möglich erledigen. Wie das Verfahren technisch funktioniert und welche Gebühren die Händler zahlen müssen, ist ihnen egal.
Welche Rolle spielen Instant Payments, bei denen Kunden das Geld in Sekundenschnelle von Konto zu Konto überweisen können?
Stahl: Im Vergleich zu den normalen Überweisungen führen Instant Payments noch ein Nischen-Dasein, auch wenn die Vorteile in manchen Fällen auf der Hand liegen, zum Beispiel beim Autokauf. Ich erwarte, dass Echtzeit-Überweisungen auf längere Sicht zum Standard werden.
Wie verändert sich der Zahlungsverkehr durch digitale Angebote und die Plattformökonomie?
Stahl: Die Vielfalt an Bezahlverfahren nimmt zu. Gleichzeitig sind die meisten Kunden mit den bestehenden Verfahren zufrieden. Das bedeutet: Neue Anbieter müssen den Menschen gute Gründe liefern, warum sie umsteigen sollten. Dazu ein persönliches Beispiel: Als ich jüngst in Berlin unterwegs war, habe ich ein Tagesticket für den ÖPNV gebraucht. Also habe ich die App der Berliner Verkehrsbetriebe auf mein Smartphone geladen, das Ticket ausgewählt und es mit Apple Pay gekauft. Anschließend hatte ich ein Ticket und die passende Rechnung in der digitalen Brieftasche – ganz ohne komplizierte Registrierung oder Legitimierung. Das ist Zahlungsverkehr en passant, im Vorbeigehen. Die Kunden schätzen so einen Mehrwert und sind bereit, zu dem neuen Verfahren zu wechseln.
„Käufer sind und bleiben Gewohnheitstiere. Neue Bezahlverfahren müssen einen erkennbaren Mehrwert bieten.“
Nun haben wir viel über Bargeld und Mobile Payment gesprochen, doch auch im Internet ist Bezahlen sehr wichtig. Wie entwickelt sich der Markt für Online-Bezahlverfahren – vor allem vor dem Hintergrund der überarbeiteten Zahlungsdiensterichtlinie PSD II?
Stahl: Auch im E-Commerce gibt es eine Fülle an neuen Bezahlmöglichkeiten. Doch die Käufer sind und bleiben Gewohnheitstiere, neue Verfahren müssen einen erkennbaren Mehrwert bieten. Wenn sie die Vorteile nicht sehen, bleiben sie bei ihren gewohnten Methoden. Das ist auch der Grund, warum neue Verfahren wie beispielsweise Bluecode und Paydirekt es schwer haben und sich bisher nicht flächendeckend durchsetzen konnten. Bezüglich der PSD II erwarte ich in den kommenden Monaten eine spannende Entwicklung. Schließlich hat die Aufsichtsbehörde BaFin den Start für die starke Kundenauthentifizierung bei Kartenzahlungen auf Ende 2020 verschoben. Wenn sie kommt, könnte der Anteil der Kreditkartenzahlungen aufgrund neuer und gegebenenfalls aufwendigerer Abläufe im Checkout im Netz sinken. Gewinner wären beispielsweise PayPal sowie Amazon Pay – und ironischerweise die vermeintlich altbackenen Verfahren Lastschrifteinzug und Kauf auf Rechnung. Auch dazu ein Beispiel: Bei Amazon mussten die Kunden lange Zeit eine Gebühr zahlen, wenn sie auf Rechnung kaufen wollten. Nun bietet das Unternehmen seinen solventen Kunden diese Möglichkeit standardmäßig an. Der Grund ist klar: Bevor die Menschen den Bestellvorgang abbrechen, weil er ihnen zu kompliziert ist, sollen sie lieber auf Rechnung kaufen.
„Im Rahmen der PSD II können Banken selbst clevere Services anbieten, die ein bestehendes Problem lösen.“
Wie können Kreditinstitute im Rahmen der PSD II weiterhin die Kundenschnittstelle im Zahlungsverkehr besetzen?
Stahl: Selbst clevere Services anbieten, die ein bestehendes Problem lösen und die Menschen überzeugen. Das ist natürlich leichter gesagt als getan. Ein erster Schritt ist beispielsweise der Identitätsservice „Yes“. Die Idee, sich mit den Bankdaten zu legitimieren, ist gut. Die Herausforderung ist immer, solche Services bei der breiten Masse bekannt zu machen.
Was empfehlen Sie Banken ganz allgemein, um ihre Erträge im Zahlungsverkehr auszubauen?
Stahl: In Befragungen regen sich viele Kunden darüber auf, wenn sie eine Kontoführungsgebühr zahlen und gleichzeitig für Einzelleistungen erneut in die Tasche greifen müssen. Dafür haben sie kein Verständnis. Mein Bauchgefühl ist also: Lieber den Grundpreis anheben und dafür alle Leistungen ohne Zusatzkosten integrieren. Ob das sinnvoll ist, muss natürlich jede Bank selbst wissen.
Facebook hat angekündigt, 2020 eine digitale Währung namens Libra auf den Markt zu bringen. Welche Auswirkungen hätte das speziell auf den Zahlungsverkehr?
Stahl: An sich ist Libra ein cleverer Schachzug von Facebook. Schließlich nutzen weltweit 2,7 Milliarden Menschen die Dienste des Unternehmens, wie beispielweise Facebook selbst, Instagram oder WhatsApp. Allerdings hat Facebook wohl kaum mit so viel Gegenwind gerechnet. Aufseher und Politiker haben eindringlich die massiven Risiken, beispielsweise für die Kreditvergabe oder die Finanzmarktstabilität, hervorgehoben. Ich bezweifle, dass Libra in Europa oder den USA jemals auf den Markt kommt. Für das eigene Vorhaben hat sich Facebook einen Bärendienst erwiesen. Allerdings ist dadurch die Debatte über digitale Zentralbankwährungen richtig in Fahrt gekommen. Das ist wichtig, denn wir brauchen eine intensive Diskussion über Chancen und Risiken des „E-Euro“.
Die europäischen Banken arbeiten an einem einheitlichen Bezahlsystem namens PEPSI. Wie bewerten Sie die Pläne?
Stahl: Die Pläne sind absolut wichtig und richtig. Aktuell laufen in Europa zwei Drittel aller Karten-Transaktionen über Mastercard und Visa. Das Ziel, Europas Banken und die europäische Kreditwirtschaft unabhängig von den US-Unternehmen zu machen, ist deshalb zu begrüßen. Es ist allerdings fraglich, ob das Projekt letztlich realisiert wird. Ich würde mir schon wünschen, dass die Europäische Zentralbank (EZB) sich stärker einbringt. Beispielsweise gibt es heute in Mexiko ein neues nationales Bezahlsystem, bei dem die Zentralbank intensiv mit den dortigen Banken aktiv zusammengearbeitet hat.
Abschließend ein Blick in die Kristallkugel: Wie werden wir im Jahr 2030 im Einzelhandel und im Internet bezahlen?
Stahl: Ich denke, dass viele Experten das Tempo der Veränderung überschätzen. In zehn Jahren werden sicherlich unbare Bezahlverfahren eine noch größere Rolle als heute spielen. Ob sie das Bargeld ersetzen, daran habe ich allerdings erhebliche Zweifel. Zudem erwarte ich, dass die EZB den digitalen Euro bis zur Marktreife entwickelt. Die Forderungen sind deutlich zu hören, doch die Risiken – etwa, was im Falle eines Bank Run passiert – müssen ebenfalls sauber durchdacht werden. Ein Schnellschuss hilft nicht weiter.
Herr Dr. Stahl, vielen Dank für das Gespräch!
Ernst Stahl ist Gesellschafter sowie Director der ibi research GmbH im Competence Center Digital Commerce & Payment. Das Institut bildet seit 1993 eine Brücke zwischen Wissenschaft und Praxis und forscht beziehungsweise berät zu Fragestellungen rund um Finanzdienstleistungen und den Handel.